Interview: Gaby Allheilig
Fünf Jahre, nachdem die Agenda 2030 von der UNO verabschiedet wurde, haben Sie in einer wissenschaftlichen Publikation zur Umsetzung der Agenda 2030 die Frage gestellt: «Wo fangen wir an?» Das war kurz vor der Covid-Pandemie. Warum haben Sie damals eine Frage gestellt und keinen Aufruf lanciert: «Fangen wir an!»?
Dass die Umsetzung der Agenda stark im Verzug ist und beim angeschlagenen Tempo 50 Prozent der Ziele nicht erreichen werden können, war schon zu jenem Zeitpunkt klar. Selbst die Frage «Wo fangen wir an?» war noch offen. Sicher hingegen war und ist, dass sich die 169 Ziele der Agenda 2030 nicht alle gleichzeitig anpacken lassen. Also man muss Prioritäten setzen. Mit unserem Beitrag wollten wir aufzeigen, welches die systemrelevanten Ziele sind, die am meisten positive Effekte erzielen, aber auch welche Zielsetzungen sich negativ auf andere Ziele auswirken. Das war ein Aspekt, der uns zu diesem Titel bewog. Zudem war offenkundig, dass sich niemand richtig dafür verantwortlich fühlte, gezielt auf die Umsetzung der Agenda 2030 hinzuarbeiten. Deshalb war es uns auch wichtig zu diskutieren, wer «wir» sind, und wie wir Koalitionen zwischen Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Wissenschaft schmieden können.
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«Punkto Umsetzung der Agenda 2030 sind wir auf einem Blindflug»
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50 Prozent der Ziele der Agenda 2030 sind also erreichbar?
Wenn wir die bisherigen Entwicklungen fortschreiben könnten, bestünde diese Chance. Tatsächlich befinden wir uns bei der Umsetzung der Agenda 2030 aber auf einem Blindflug. Die Monitoringsysteme sind ungenügend und operieren oft mit Indikatoren, die schlicht unbrauchbar sind. Unsere Hauptkritik ist jedoch: Es gibt keine ernst zu nehmende relative Messung, die zeigt, wo wir punkto Umsetzung der Agenda 2030 stehen müssten und wo wir tatsächlich stehen.
Am Wissen kann es kaum liegen, dass dem so ist und wir punkto Nachhaltigkeitsziele nicht wirklich weiterkommen. Dan Smith, Direktor des schwedischen Friedensforschungsinstituts SIPRI, meinte erst kürzlich: «Die Menschheit hat das Wissen und die Fähigkeiten, aus den Schwierigkeiten zu kommen, in denen wir uns befinden.» Wo klemmt es dann?
Mehr wissen führt bekanntlich nicht zu mehr handeln. Und: Die Aussage von Dan Smith würde ich glatt bestreiten. Sie ist unvollständig. Wir verfügen zwar über sehr viel Wissen, das wir nicht genügend nutzen. Aber dieses Wissen ist sehr oft deskriptiv: Man analysiert, wie es früher war, stellt Berechnungen an – und wenn es hoch kommt, gibt es gewisse Ableitungen und Projektionen für die Zukunft, wie beispielsweise für die Klimaerwärmung. Das ist alles wunderbar. Aber – und das ist das eigentliche Problem: Wir wissen nicht, wie wir vom Ist-Zustand zum Soll-Zustand kommen sollen – falls wir denn überhaupt wissen, was der Soll-Zustand ist.
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«Ohne gesellschaftliche Akzeptanz lassen sich Veränderungen nicht durchsetzen»
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Zumindest beim Klima ist das mit dem 1,5 Grad-Ziel bekannt.
Ja, die 1,5 Grad sind eine gesellschaftliche und politische Setzung, die wissenschaftlich unterlegt ist. Solche Werte sind aber nur bei wenigen Zielen der Agenda 2030 vorhanden. Auch punkto den 1,5 Grad ist die Frage nicht geklärt, wie wir zu einer Netto-Null-Gesellschaft gelangen, die in der Lage ist, die Klimakrise abzudämpfen oder zu bewältigen. Genau dieses Wissen, das transformative Wissen, fehlt uns. Es ist zentral, dass wir die Handlungsoptionen kennen und gleichzeitig abschätzen können, wie akzeptabel die verschiedenen Optionen für alle Teile unserer Gesellschaften sind. Ohne das Wissen über diese Akzeptanz lassen sich Veränderungen nicht um- oder durchsetzen.
Wie soll die Akzeptanz für tiefgreifende Veränderungen geschaffen werden, wenn es zunehmend weniger gelingt, dass Fakten als solche anerkannt werden?
Schaut man in die Vergangenheit, zu welchem Zeitpunkt sich wirklich etwas bewegt und verändert hat, dann sind es die «Häufigkeitsverdichtungen», wie es der Historiker Jürgen Osterhammel genannt hat. Demnach gibt es Ideen, die immer öfter und an mehr Stellen aufgenommen werden, bis es zu einem Kipppunkt kommt, wo ein neues Normal entsteht.
Punkto Nachhaltigkeit haben wir da viel zu lange auf die Politik gewartet und tun es immer noch. Die Politik stösst von sich aus aber nichts an, sie reagiert höchstens auf gesellschaftliche Bewegungen und neue Narrative. Letztere sind – auch seitens der Wissenschaft – bisher jedoch zu stark darauf ausgerichtet, die Alarmglocken zu läuten. Das ist zwar wichtig, reicht aber nicht, um die Menschen für Neues zu gewinnen.
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«Die Wissenschaft kommt in Politik und Gesellschaft kaum an»
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Was braucht es dann?
Die Leute sind von all den Krisen bedrückt oder überfordert. Man steckt den Kopf in den Sand und hofft auf die Politik. Diese wiederum findet, die Wirtschaft solle handeln, und so weiter. Deshalb müssen wir uns – gerade auch in der Wissenschaft – fragen, wie wir zu positiven Geschichten und Erzählungen kommen, die inspirierend sind und die zeigen, dass etwas möglich ist und erst noch Spass macht.
Was wäre denn ein positives Narrativ, mit dem sich etwas bewegen liesse?
Ich muss gestehen, dass mich dieses Beispiel selbst überrascht hat: die Reduktion der Arbeitszeit auf eine Vier-Tage-Woche und zwar bei gleichem Lohn. Als am CDE erste Studien dazu – bezogen auf die Schweiz – publiziert wurden, dachte ich zunächst, die Idee ist zwar sehr überzeugend, weil sie an die Wurzel des Problems geht – dem Modell des ständigen quantitativen Wachstums. Gleichzeitig war ich überzeugt, dass das in der Schweiz keine Chance hat. Aber offenbar gab es ein Momentum, das diese Idee salonfähig gemacht hat. Island hat das Modell 2021 eingeführt, Spanien und Neuseeland testen es, und jetzt setzen es sogar in der Schweiz verschiedenste Unternehmen um.
Sie haben vorher die Wissenschaft in die Pflicht genommen, positive Narrative zu entwickeln. Warum sie?
Ganz einfach formuliert: Die Wissenschaft kommt in Politik und Gesellschaft kaum an und gesellschaftlich-politische Debatten gelangen viel zu wenig in die Wissenschaft. Das liegt meines Erachtens daran, dass die Wissenschaft nicht oder zu wenig weiss, wie Politiker*innen funktionieren und was diese brauchen. In der Politik wiederum konzentriert man sich vor allem auf sehr kurzfristige Ziele und ängstigt sich, dass die Wissenschaft das Primat der Politik untergraben könnte. Beide Seiten verstehen zu wenig, welche Bedürfnisse die andere Seite hat und in welchem Umfeld sie sich bewegen.
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«Wir müssen aufpassen, dass wir mit unserem Glauben in rein technische Lösungen nicht stranden»
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Ein Teil der Wissenschaft liefert ja laufend Innovationen in Form von neuen Technologien, die der Nachhaltigkeit dienen sollen. Es gibt sogar Ankündigungen, die Klimakrise lasse sich technologisch lösen.
Neue Technologien spielen bei den Herausforderungen der nachhaltigen Entwicklung eine wichtige Rolle. Gerade im Westen müssen wir allerdings sehr aufpassen, dass wir mit unserem Glauben an rein technische Lösungen nicht stranden. Denn einerseits entstehen mit neuen, interessanten Technologien aus der Forschung oft Spin-offs, die wieder neue Konsumbedürfnisse wecken. Andererseits dürfen wir nicht einfach auf Technologien zählen, die wie das Geo-Engineering noch in den Kinderschuhen stecken. Beispiele dafür sind das «Solar Radiation Management» – etwa indem Aerosole in der Stratosphäre ausgebracht werden, um die Sonneneinstrahlung auf die Erde zu verringern –, oder die Meeresdüngung mit CO2-bindenden Algen. Das Klima auf diese Art «retten» zu wollen, birgt völlig unvorhersehbare Risiken, wie das Deutsche Umweltbundesamt kürzlich darlegte.
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«Die Wirtschaft weist die höchste Dynamik in Sachen Agenda 2030 auf»
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Von der Politik erhoffen Sie sich nicht viel, die Wissenschaft ermahnen Sie, vermehrt Wissen zu erarbeiten, das der «grossen Transformation» dient. Was ist mit der Wirtschaft, immerhin einem der Haupttreiber für viele unserer heutigen Krisen?
Die Wirtschaft hat sich längst von der Rolle als Dienerin der Gesellschaft verabschiedet. Sie hat mindestens bisher den Selbstzweck verfolgt, unendlich weiter zu wachsen. Gleichzeitig ist sie meines Erachtens der Partner der Agenda 2030, der punkto Veränderungen die höchste Dynamik aufweist. Die Wirtschaft hat erkannt, dass ressourcenschonende Produktionsweisen und Modelle betriebswirtschaftlich interessant sind. Beispiele dafür sind die Kreislaufwirtschaft und andere Bestrebungen, das Wachstum vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln. Da passiert viel Positives. Aber ist es wirklich mehr, als das bisher wachstumsabhängige Wirtschaftsmodell zu optimieren? Jedenfalls fehlt – mit Ausnahme einiger KMU – der Mut, den Wandel von der kurzfristigen Gewinnmaximierung zur langfristigen Nutzenoptimierung anzugehen.
Kommen wir nochmal zu einem positiven Narrativ: Wo sehen Sie die grössten Chancen, dass sich etwas bewegen lässt?
Ich bin überzeugt davon, dass das grösste Potenzial dafür in einer Allianz von Wissenschaft und Zivilgesellschaft liegt, die theoretisches und konkretes Wissen verbindet; beispielsweise in Bürger*innen-Räten oder -Foren, die mit der Wissenschaft zusammenarbeiten. Dann würde auch die Wissenschaft besser verstehen, welche Fragen die Gesellschaft umtreibt.