Interview: Gaby Allheilig
Theresa Tribaldos, Sie forschen zusammen mit finnischen und brasilianischen Wissenschaftler*innen zur Frage, wie wir zu gerechten Ernährungssystemen kommen. Was fällt Ihnen aus dieser Sicht bei der Debatte um die Schweizer Agrarpolitik und den beiden anstehenden Volksinitiativen auf?
In erster Linie fällt mir in der jetzigen Debatte auf, dass die Landwirtschaft losgelöst von Verarbeitung, Handel, Vertrieb und Konsum diskutiert wird. Dabei hängt das alles eng zusammen bzw. voneinander ab. Die Frage, ob wir den Einsatz von synthetischen Pestiziden herunterfahren wollen, stellt sich meines Erachtens so gar nicht – wir müssen. Aber zu glauben, dass die Probleme gelöst sind, wenn die Bauern ohne synthetische Pestizide produzieren, und sonst alles weiter so läuft wie bisher, ist fern der Realität.
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«Die Initiativen bringen ein sehr wichtiges Thema aufs Tapet»
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Die Initiativen setzen also am falschen Punkt an?
Vom Ziel her gesehen überhaupt nicht. Sie bringen ein sehr wichtiges Thema aufs Tapet, das in der Öffentlichkeit jetzt breit diskutiert wird. Es ist aber wichtig, nicht nur über die landwirtschaftliche Produktion zu sprechen – und sonst den ganzen Rest bei Seite zu lassen. Am Beispiel Fleisch lässt sich das illustrieren: Wir können nicht gleich viel Fleisch essen und meinen, wir schaffen das nur mit Futtermitteln, die hier produziert werden. Das hätte zur Folge, dass wir mehr Fleisch importieren würden und damit noch weniger Einfluss auf die Produktionsart hätten.
Sie sprechen ganze Ernährungssyteme an. Was muss man dabei alles beachten?
Das wichtigste Ziel eines Ernährungssystems sollte sein, dass die Bevölkerung ausreichend gesunde Nahrungsmittel hat. Dazu gehört, was und wie produziert wird, wie die Lebensmittel verarbeitet, vertrieben und gehandelt werden und wie die Machtverhältnisse entlang der Wertschöpfungsketten sind. Aber auch, welche Informationen den Produzent*innen und Kosument*innen zur Verfügung stehen, welche Rahmenbedingungen die Politik setzt und – nicht zuletzt – welche Grundlagen die Umwelt bietet.
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«Im Agro-Food-Bereich hat eine enorme Machtkonzentration stattgefunden»
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Wieso Machtverhältnisse?
Leider ist es so, dass die Machtverhältnisse in den Ernährungssystemen sehr ungleich verteilt sind. In Brasilien zum Beispiel ist die Landbevölkerung immer stärker unter den Druck von Grossgrundbesitzern und internationalen Konzernen geraten, die – wie im Falle von Soja – auf riesigen Landflächen Monokulturen anbauen, um billige Rohstoffe zu produzieren. Dabei nehmen exportierende wie importierenden Staaten Land-Grabbing, Abholzungen, hohe Pestizideinsätze, Menschenrechtsverletzungen, etc. in Kauf. In diesem Bereich lagern Länder wie die Schweiz die Probleme weitgehend aus.
Das bedeutet, dass man auch die Agro-Food-Konzerne in die Pflicht nehmen muss. Wie soll das geschehen?
Früher oder später wird sich die Politik in den jeweiligen Ländern und auf internationaler Ebene damit auseinandersetzen müssen, wie man in dieser Frage verfährt. Denn in den letzten Jahrzehnten hat eine enorme Konzentration von Macht und Einfluss über die ganze Wertschöpfungskette stattgefunden – auch in der Schweiz. Immer mehr sind es Konzerne, die bestimmen, welche Produkte auf welche Art hergestellt werden und damit auch, was wir konsumieren.
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«Die Probleme, die mit der Agrarindustrie verbunden sind, betreffen nicht nur den Konsum von tierischen Produkten»
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In den industrialisierten Ländern konsumieren wir durchschnittlich über 85 Kilo Fleisch pro Kopf und Jahr. Also einfach weniger oder kein Fleisch mehr essen?
Ich bin nicht der Ansicht, dass wir vollständig auf den Fleischkonsum verzichten müssen, zumal Fleisch auch wertvolle Nährstoffe enthält, die mit einer rein pflanzlichen Ernährung nicht so einfach zu kompensieren sind. Aber ja, wir sollten tatsächlich deutlich weniger Fleisch essen, auch wenn wir in der Schweiz nicht auf die 85 Kilo pro Kopf kommen. Wenn die ganze Bevölkerung ihren Fleischkonsum auf ein Mass reduzieren würde, das auch gesundheitlich sinnvoll ist, könnten wir den Bedarf mit einer tier- und umweltfreundlichen Produktion decken. Aber die Probleme, die mit der Agrarindustrie verbunden sind, betreffen nicht nur den Konsum von tierischen Produkten.
Sondern?
Ändern wir nichts am System, das auf riesigen Monokulturen basiert, ist auch mit einer rein pflanzlichen Ernährung noch nicht viel gewonnen. Natürlich liessen sich so mehr Menschen ernähren. Aber die nicht-nachhaltige Landnutzung und andere Auswirkungen blieben bestehen, wenn wir uns vermehrt von Pflanzen wie Gelberbsen ernähren würden, die mehrheitlich aus intensiven Produktionssystemen stammen.
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«Nur schon wegen der Klimaerwärmung müssen wir die Ernährungssysteme stark umgestalten»
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Das Forschungsprojekt, in dem Sie arbeiten, verfolgt einen anderen Ansatz. Worin besteht der?
Man weiss, dass unsere Ernährungssysteme weder ökologisch vertretbar, noch gesund oder gerecht sind. Nehmen wir die Klimaerwärmung: 30 bis 40 Prozent der Treibhausgasemissionen gehen auf die Versorgung mit Lebensmitteln zurück. Nur schon deshalb müssen wir die Ernährungssysteme stark umgestalten. Bei solchen Veränderungsprozessen gibt es aber immer Gewinner und Verlierer. Unsere zentrale Forschungsfrage lautet daher, wie man den nötigen Wandel bewerkstelligen kann, ohne dass das auf Kosten jener geht, die ohnehin am schwächsten sind. Letztlich drehen sich unsere Untersuchungen um die Gerechtigkeit in den Ernährungssystemen.
Was heisst das konkret?
Wir betrachten die ganze Wertschöpfungskette, von der landwirtschaftlichen Produktion über den internationalen Handel bis hin zur Ernährung. Dabei arbeiten wir auch mit verschiedenen Fallbeispielen; eines davon ist in Brasilien. Dort erforschen wir, welche Auswirkungen die Sojaproduktion auf die Bauern vor Ort hat und welche Hebel es gibt, um die damit verbundenen Probleme anzupacken.
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«Wir müssen uns fragen, wie wir vom Futtermittel-Soja wegkommen»
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Sie suchen nach Lösungen, um die Sojaproduktion nachhaltig zu machen?
Natürlich kann man an einzelnen Parametern etwas schrauben – beispielsweise weniger Pestizide ausbringen oder die Abholzung für Anbauflächen reduzieren. Aus unseren Erkenntnissen ergibt sich aber: Es ist nicht möglich, ein Modell nachhaltig zu gestalten, das darauf ausgelegt ist, riesige Flächen intensiv zu bewirtschaften, um grosse Mengen billig zu exportieren. Viel wichtiger scheint mir, eine Ausstiegsstrategie zu entwerfen, also zu fragen: Wie kommt man von solchem Soja weg?
Hat die finnische Regierung, die das Forschungsprojekt unterstützt, tatsächlich ein Interesse daran, zusammen mit der Wissenschaft nach Lösungen zu suchen?
Die Finnen haben ein grosses Interesse daran, etwas gegen die Klimaerwärmung zu unternehmen. Ein wichtiger Baustein davon ist die Veränderung des Ernährungssystems. Finnland will dabei auch Gerechtigkeitsfragen berücksichtigen.
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«Finnland schaut nicht nur die eigene Produktion an, sondern blickt vermehrt auch auf globale Wertschöpfungsketten»
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Wie relevant sind die wissenschaftlichen Resultate für die finnische Politik?
Unsere finnischen Partner stehen in sehr intensivem Austausch mit verschiedenen staatlichen Behörden. In diesem Politikdialog wird regelmässig erörtert, was aus der Gerechtigkeitsperspektive zu beachten wäre, wenn man die politischen Rahmenbedingungen für das Ernährungssystem ändern möchte.
Zum Beispiel?
Ein Beispiel betrifft die Treibhausgas-Emissionen aus der Landwirtschaft. Hier diskutieren wir mit den zuständigen Regierungsstellen darüber, was es bedeuten würde, wenn man diese Emissionen um 50 Prozent senken will. Aber auch, wie sich die verschiedenen Ansprüche an Gerechtigkeit für die entsprechenden Gesetzesgrundlagen mitberücksichtigen lassen. Dabei stehen zunächst finnische Themen im Zentrum, aber es wird auch immer intensiver über globale Wertschöpfungsketten diskutiert.
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«In der Schweiz herrscht oft noch ein sektorielles Denken vor»
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Wäre der Weg, den Finnland jetzt mithilfe der Wissenschaft beschreitet, übertragbar auf die Schweiz?
Es braucht einerseits den politischen Willen dafür. Dann wäre das durchaus denkbar. In der Schweiz herrscht jedoch oft noch ein sektorielles Denken vor. Gerade beim Ernährungssystem wäre es äusserst wichtig, dass die verschiedenen Bundesämter von Landwirtschaft über Umwelt bis Gesundheit, aber auch SECO und DEZA miteinander diskutieren und gemeinsam nach Lösungen suchen. Andererseits braucht es mehr Mut, um Forschung zu finanzieren, die nicht nur nach den herkömmlichen Mustern funktioniert, sondern die Raum für offene Prozesse lässt.
Welche Massnahmen sind geeignet, um unser Ernährungssystem gerechter zu machen?
Über einen einzigen Weg kommen wir nicht ans Ziel, deshalb braucht es verschiedene Ansätze. Einer davon ist der Handel. Wir müssen uns fragen, welche Produkte wir überhaupt importieren wollen und wie diese produziert werden sollen. Ein anderer Hebel ist die Unterstützung von lokalen Organisationen in Produktionsländern wie Brasilien, die sich gegen den Druck der Agrarindustrie wehren. Auch hier bieten sich via Handelsbeziehungen und -verträge Möglichkeiten an, aktiv zu werden. Und sicher müssen wir uns überlegen, welche Art von Tierhaltung und Produktion generell wir bei uns fördern, damit wir nicht auf Importe von Futtermitteln wie Soja angewiesen sind. Das wiederum betrifft auch die Konsument*innen: Mit ihren Kaufentscheiden beeinflussen sie stark, was wie produziert wird. Faire Preise für nachhaltige Produktionsweisen sind dabei ein wesentlicher Bestandteil.