Interview: Pieter Poldervaart*
Seit 1980 hat sich der globale Handel mit Lebensmitteln verdoppelt. Was bedeutet das für die Anbaugebiete im Süden?
Sabin Bieri: Zu diesem Thema haben wir eben das Projekt «Feminization, Agricultural Transition und Rural Employment» abgeschlossen. Eine Erkenntnis daraus ist, dass die Menschen im Süden durch die industrialisierte Landwirtschaft häufig vom Regen in die Traufe kommen. Als Subsistenzlandwirtinnen hingen sie von der Natur ab: Dürren, Überschwemmungen und Schädlinge konnten den Jahresertrag ruinieren. Heute bauen sie für den Export an oder arbeiten auf Grossfarmen. Statt von Naturgefahren werden sie jetzt existenziell von den volatilen globalen Märkten bedroht. Früher konnten sie immerhin verschiedene Kulturen anbauen und so das Risiko von Ernteausfällen minimieren. Eine reine Exportlandwirtschaft hingegen führt dazu, dass sie sich auf eine oder zwei Kulturen konzentrieren und damit kaum auf Preiszerfälle reagieren können. Anders als in der Schweiz fehlt den Bäuerinnen und Bauern im Süden ein soziales Auffangnetz.
Und was bedeutet der steigende Welthandel für uns?
Sabin Bieri: Wir auf der Nordhalbkugel profitieren dank dem boomenden Welthandel von der totalen Verfügbarkeit: Erdbeeren und Spargeln gibt’s auch an Weihnachten. Neben den geschilderten sozialen Folgen verkomplizieren diese globalisierten Nahrungsmittelketten den Feedback-Loop.
Was verstehen Sie darunter?
Sabin Bieri: Die berühmte «Politik mit dem Einkaufskorb» – also durch den Kauf nachhaltiger Produkte reale Veränderungen zu bewirken – ist schon der richtige Ansatzpunkt. Aber der globalisierte Lebensmittelmarkt erschwert es zunehmend, die Folgen des Nahrungsmittelkonsums nachzuvollziehen und damit die eigenen Handlungen auf Nachhaltigkeit auszurichten. Die Konsumwelt ist kompliziert und widersprüchlich geworden. Wir haben Mühe, einzuschätzen, ob es sinnvoll ist, Fairtrade-Rosen aus Kenia zu kaufen oder ob wir den peruanischen Bauern ihr Einkommen wegnehmen, wenn wir im Februar keine Spargeln essen.
Theresa Tribaldos: Auch in Schwellenländern profitieren bloss wenige Menschen vom Globalisierungsboom in Ernährungssystemen. Das zeigt sich zum Beispiel anhand der Sojaproduktion in Brasilien. Wir sehen, dass diese industriellen Monokulturen in stark konzentrierten Wertschöpfungsketten funktionieren.
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«Der zunehmende Anbau von landwirtschaftlichen Massengütern in Monokulturen bewirkt viele externe Kosten»: Theresa Tribaldos
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Was ist daran problematisch?
Theresa Tribaldos: Diese Konzentration führt dazu, dass neben Dünger, Maschinen und Saatgut auch Handel und Verarbeitung von wenigen Firmen kontrolliert werden. Klein- und Existenzlandwirt*innen werden teilweise von ihrem Land vertrieben oder enteignet und in die Städte abgedrängt, wo alternative Arbeitsplätze häufig fehlen. Der zunehmende Anbau von landwirtschaftlichen Massengütern in Monokulturen bewirkt viele externe Kosten, was der Gesellschaft als Ganzes schadet – auch wenn es gemäss offiziellen Statistiken das Wirtschaftswachstum ankurbelt.
Immerhin, in den Zehnerjahren sank der Anteil der Weltbevölkerung, der hungerte.
Sabin Bieri: Da setze ich ein grosses Fragezeichen. Seit 2014 steigt der Anteil der unterernährten Menschen wieder, entgegen den Erwartungen der UNO und den Nachhaltigkeitszielen. Zudem wird in diesen Berechnungen der Kalorienbedarf sehr tief angesetzt. Und die Tatsache, dass wir nicht nur Kalorien, sondern auch Vitamine und Mineralstoffe brauchen, wird zu wenig gewichtet.
Die Folgen des Angriffskriegs auf die Ukraine haben bei uns das Thema Nahrungsmittelsicherheit wieder aufs Tapet gebracht. Waren die Lieferketten schon immer instabil, und wir haben es einfach nicht mitbekommen?
Theresa Tribaldos: Regionale Versorgungskrisen gab es schon immer, doch die zunehmende Globalisierung hat neue Kooperationen geschaffen und damit auch Abhängigkeiten verschärft. Reissen jetzt die globalen Lieferketten, sind die Auswirkungen rasch dramatisch.
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«Noch immer glauben wir, billige Nahrungsmittel seien möglich – aber das ist eine gewaltige Täuschung»: Theresa Tribaldos
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Und es kommen immer neue Krisen dazu: Klimakrise, Pandemie, jetzt der Krieg …
Theresa Tribaldos: ... die dazu führen, dass das Phänomen ein neues Ausmass angenommen hat. Die Krisen und ihre Auswirkungen potenzieren sich. Es mangelt vielen Ländern an Zeit, sich vom letzten Grossereignis zu erholen und die Ernährung ihrer Bevölkerung wieder zu stabilisieren. Neu ist auch, dass wir es nicht länger mit einzelnen Vorkommnissen zu tun haben. Die Klima- und die Biodiversitätskrise überlagern sich, und wir werden sie so schnell nicht abhaken.
War früher alles besser? Müssen wir zurück in die Sechziger- und Siebzigerjahre?
Theresa Tribaldos: Das können wir nicht, und es würde auch nichts bringen. Damals wurde das Ernährungsmodell lanciert, das wir heute kennen: Unter dem Titel «grüne Revolution» wollte man möglichst effizient gegen den Welthunger vorgehen, mit hohem Ertrag und tiefen Preisen. Die Kehrseite sind all die sozialen und ökologischen Folgen, die in den Kosten nicht berücksichtigt sind, weil sie elegant ausgelagert wurden. Noch immer glauben wir, billige Nahrungsmittel seien möglich – aber das ist eine gewaltige Täuschung. Die wahren Kosten tauchen einfach in Form von Umweltschäden, sozialen Problemen oder Gesundheitskosten auf.
Sollen wir also den internationalen Austausch von Lebensmitteln sein lassen und wieder die nationale Landwirtschaft stärken?
Sabin Bieri: Lebensmittel grenzüberschreitend zu handeln, kann sinnvoll sein. Etwa, wenn es darum geht, gewisse Nährstoffe an Orte zu bringen, wo diese nicht verfügbar sind. Doch die Kernfrage ist, welches Ziel wir verfolgen. Geht es nur darum, über Massenproduktion möglichst viel abzuschöpfen? Das kann es wohl nicht sein. Um resilienter zu werden, muss die Versorgungssicherheit mit genügend und gesundem Essen im Zentrum stehen.
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«Autarkie als Gegenpol zur Globalisierung ist unrealistisch»: Sabin Bieri
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Eine möglichst vollständige Selbstversorgung würde doch besonders resilient machen.
Sabin Bieri: Autarkie als Gegenpol zur Globalisierung ist unrealistisch. Zudem überschätzen wir unsere Möglichkeiten: Bezüglich Kalorien haben wir hierzulande einen Eigenversorgungsgrad von rund 60 Prozent. Zieht man von tierischen Produkten jenen Teil ab, den wir dank brasilianischem Kraftfutter produzieren, sind es nur noch 50 Prozent. Ein gewisser Austausch ist sinnvoll, um sich bei schlechten Ernten auszuhelfen. Wichtig ist, Zweck und Mittel nicht zu verwechseln. Globaler Handel ist das Mittel, nicht der Zweck.
Aber man hat doch schon immer gehandelt, um Geld zu verdienen.
Sabin Bieri: Klar, und der Austausch von Lebensmitteln brachte auch Fortschritt. Doch die Ernährungssicherheit der eigenen Bevölkerung hat Priorität. Die asiatischen Tigerstaaten haben das in den Siebziger und Achtzigerjahren vorgemacht: Taiwan, Indonesien und Malaysia schützten zuerst ihre Ökonomien, um in Sachen Nahrungsversorgung resilient zu werden. Erst in einem zweiten Schritt setzten sie auf die Industrialisierung und den landwirtschaftlichen Export. Die heutige Entwicklung in Ländern des südlichen Afrikas verläuft anders. Hier werden Monokulturen für den Export vorangetrieben, ohne dass die eigene Versorgungssicherheit gewährleistet wäre.
Theresa Tribaldos: Autarkie in der Schweiz ist eine Illusion. Die vergangenen Jahre haben uns jedoch immer deutlicher vor Augen geführt, dass eine gewisse Selbstversorgung wichtig ist. Es lohnt sich, Abhängigkeiten zu hinterfragen und zu reduzieren. Importieren wir dennoch, sollten wir dabei bewusst Resilienz und Nachhaltigkeit in den Ursprungsländern stärken. Das gilt auch für klassische Lebensmittelexporteure wie die USA, Kanada oder die Ukraine. Ihre Landwirtschaft wird von extremen Monokulturen dominiert, die alles andere als nachhaltig sind.
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«Nicht in jedem Fall stärkt die Produktion von Nahrungsmitteln unsere Nahrungsmittelsicherheit»: Theresa Tribaldos
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Aber immerhin werden hier Lebensmittel im grossen Stil erzeugt.
Theresa Tribaldos: Nicht in jedem Fall stärkt die Produktion von Nahrungsmitteln unsere Nahrungsmittelsicherheit: Die Soja und Maisernte wird bei Weitem nicht nur direkt für die Ernährung genutzt. Vieles landet im Futtertrog, wird zu Biodiesel oder Fruktose-Sirup verarbeitet. Dieser billige Süssstoff ist eine wichtige Zutat für hoch verarbeitete, extrem ungesunde Nahrungsmittel.
Sie sprechen den hohen Zuckergehalt in verarbeiteten Lebensmitteln an. Ist die enorme Verbreitung von Fettleibigkeit in Schwellenländern wie Mexiko eine Folge davon?
Theresa Tribaldos: Zu einem guten Teil. Der westliche Lifestyle gilt auch andernorts als erstrebenswert, und die Lebensmittelindustrie betreibt ein gutes Marketing. Hochindustriell erzeugtes Essen enthält viel Salz, ungesunde Fette und vor allem enorm viel Zucker. Dieser wirkt wie eine Droge: Kurzfristig löst er ein Glücksgefühl aus. Flaut dieses ab, will man mehr davon. Indem nicht nur Süssigkeiten, sondern auch andere verarbeitete Nahrungsmittel mit Zucker angereichert werden, schafft man sich eine treue Kundschaft. Hinzu kommt, dass nicht überall auf der Welt der Zugang zu sauberem Trinkwasser gegeben ist. Wenn Getränke gekauft werden müssen, fällt die Wahl nicht unbedingt auf das gesündeste Produkt, insbesondere wenn bereits Abhängigkeiten bestehen. Und schliesslich fehlt heute auch in Schwellenländern vielen die Zeit, sich Mahlzeiten selbst zuzubereiten.
Sabin Bieri: Das alles illustriert, dass Essen viel mehr ist als Nahrungsmittelzufuhr. Es ist eine zutiefst soziale Praxis. Darin spiegelt sich der Wert, den wir der Zubereitung von Nahrung und der damit verbundenen Arbeit – im Alltag oft durch Frauen verrichtet – zugestehen. Ernährungsgewohnheiten verweisen zudem auf sozialen Status. Dazu passt die Erfahrung unserer Forschungspartnerin in Bolivien. Weil die Gesetze zum Schutz von Hausangestellten strenger werden, verzichtet der Mittelstand zunehmend auf diese. Das hat den Nebeneffekt, dass daheim weniger gekocht wird. Man kauft mehr Fastfood – und riskiert damit, sich falsch zu ernähren.
In Mexiko intervenierten Konzerne sogar direkt, als es um eine Zuckersteuer ging.
Sabin Bieri: Lebensmittelfirmen sind Schwergewichte. Der Jahresumsatz von Nestlé ist vergleichbar mit dem Bruttosozialprodukt von Luxemburg. Der Einfluss dieser Foodimperien auf nationalstaatliche Regulierungen ist kaum zu überschätzen. Ausserdem spielen sie auf Zeit und versuchen, Vorgaben, die ihr Geschäftsmodell einschränken, möglichst lange hinauszuzögern. Dieses Vorgehen kennen wir von der Tabakindustrie.
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«Eine kohärente Politik sieht anders aus»: Sabin Bieri
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Ob Mexiko, Bolivien oder die Schweiz, Nahrungsmittel sind praktisch weltweit in derselben Qualität erhältlich. Was macht das mit dem Ernährungssystem?
Sabin Bieri: Dieser Trend konkurrenziert regionale Ernährungssysteme. Lokale Produzentinnen und Produzenten können Standards nicht immer einhalten und bleiben auf ihrer Ware sitzen.
Theresa Tribaldos: Das wiederum hat direkten Einfluss auf die Vielfalt von Nahrungsmitteln, Sorten und Ökosystemen. Vielfalt ist wichtig für die Resilienz. Wenn die Agrobiodiversität massiv zurückgeht und immer weniger Nutzpflanzensorten global angebaut werden, ist das gefährlich. Das System wird etwa anfälliger für Schädlinge. Ausserdem ist die globale Verfügbarkeit längst nicht für alle Bevölkerungsschichten erschwinglich.
Auch Schweizer Käse ist weltweit verfügbar, zudem exportieren wir im grossen Stil Milchpulver. Sollten wir das überdenken?
Sabin Bieri: Aufgrund seiner Topografie ist unser Land für die tierische Lebensmittelproduktion geeignet. Aber wir müssen diskutieren, was sinnvoll ist. Vor 100 Jahren lag es auf der Hand, dass die Zahl der Tiere von der verfügbaren Fläche eines Hofs abhängt. Erst in den Sechzigerjahren etablierte sich die bodenunabhängige Tierproduktion, die auf Inputs wie Futtermittel angewiesen ist. Inzwischen subventionieren wir den Export dieser Überschüsse. Mit dieser Spirale sabotieren wir jene Ziele, die unsere Entwicklungspolitik fördern will, also beispielsweise die lokale Nahrungsmittelversorgung. Eine kohärente Politik sieht anders aus.
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«Es geht nicht nur um Verbote oder Informationskampagnen, sondern auch darum, falsche Anreize abzuschaffen»: Sabin Bieri
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Das klingt sehr ernüchternd – gibt es auch Entwicklungen, die Mut machen?
Theresa Tribaldos: Ein gutes Beispiel ist «100% Valposchiavo» in Graubünden. Tourismus und Landwirtschaft arbeiten im Puschlav eng zusammen, um eine hohe Qualität der Lebensmittel zu garantieren, dazu kommt eine lokale Verarbeitung. Solche lokalen Beispiele gibt es viele.
In den Städten spriessen Projekte wie Urban Gardening oder die solidarische Landwirtschaft – ein Grund zur Hoffnung?
Theresa Tribaldos: Unbedingt. Lebensmittel werden tendenziell knapper, und je mehr wir mit neuen Produktionsformen experimentieren, desto vielfältiger und stabiler wird unser Ernährungssystem. Solche Ideen auch aus dem urbanen Raum helfen zudem, dass wir wieder besser verstehen, woher unser Essen kommt.
Das Puschlav ist überschaubar, ebenso ein Gemeinschaftsgarten im Hinterhof. Wie lassen sich solche Ideen skalieren?
Sabin Bieri: Ein entscheidender Hebel ist die Agrarpolitik. Die Regulierung von Tabak könnte als Vorbild dienen. Aber die Politik an sich muss kohärenter werden. Es geht nicht nur um Verbote oder Informationskampagnen, sondern auch darum, falsche Anreize abzuschaffen. Dazu gehört beispielsweise der Verzicht auf Subventionen für ungesunde Nahrungsmittel wie Zucker. Wobei der Staat doppelt profitieren würde, denn eine bessere Ernährung führt auch zu tieferen Gesundheitskosten.
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«Wichtig ist, arbeits- statt kapitalintensive Industrien zu entwickeln»: Sabin Bieri
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Und was muss im Süden geschehen?
Theresa Tribaldos: Ein erster Schritt wäre mehr Transparenz in Wertschöpfungsketten, damit wir uns über die Auswirkungen unseres Handels klarer werden. Aber wir müssen durch unseren Handel auch dazu beitragen, dass die Ernährungssysteme der Handelspartner nachhaltiger und resilienter werden.
Sabin Bieri: Wichtig ist, arbeits- statt kapitalintensive Industrien zu entwickeln. Die Exportlandwirtschaft, so wie sie heute funktioniert, bietet wenige und austauschbare Arbeitsplätze an. Zudem gilt es, möglichst viel Verarbeitung und damit Wertschöpfung im Süden zu belassen.
Mit dem Freihandelsabkommen mit Indonesien tat die Schweiz einen ersten Schritt in Richtung faire Handelsbeziehungen.
Theresa Tribaldos: Das Abkommen hat gute Aspekte. Doch wir können nicht nur strenge Standards einfordern. Wir müssen uns zusätzlich auch dafür einsetzen, dass Kapazitäten in den Herkunftsländern aufgebaut werden, beispielsweise durch Finanzierungshilfen für nachhaltigere Prozesse.
Gibt es weitere Hebel, um das resiliente Ernährungssystem vorwärtszubringen?
Sabin Bieri: Erhellend ist ein Blick auf die Summen, die in Ernährungssysteme gesteckt werden. Für Lebensmittel geben wir als Konsumentinnen und Konsumenten hierzulande jährlich 30 Milliarden Franken aus. Auf unseren Vorsorgekonten liegt ein Vielfaches davon – rund 1000 Milliarden Franken. Ein substanzieller Teil davon wird in die industrialisierte Nahrungsmittelproduktion – etwa in die erwähnten Sojaplantagen – investiert. Entsprechend müssten wir die Finanzindustrie in die Pflicht nehmen.
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«Ich sehe eine Chance darin, dass wir vermehrt thematisieren, was Luxus ist und worauf wir verzichten können»: Theresa Tribaldos
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Das sind grosse Aufgaben. Ist die aktuelle Situation mit einer Ballung von Krisen eine Chance, oder sind wir schlicht überfordert?
Sabin Bieri: Je länger die Situation andauert, desto weniger Zeit bleibt uns, zu reagieren. Um den Wandel anzustossen, eignet sich das Ernährungssystem jedoch hervorragend. Nur schon deshalb, weil wir uns alle täglich mit Lebensmitteln herumschlagen. Wir müssen ja essen, und es ist auch eine sehr lustvolle Tätigkeit. Zudem ist Ernährung einfacher kommunizierbar als ein ziemlich abstraktes 1,5 Grad Klimaziel.
Theresa Tribaldos: Ich sehe die Chance darin, dass wir vermehrt thematisieren, was Luxus ist und worauf wir verzichten können. Auf Soja aus brasilianischen Monokulturen, mit dem bei uns billiges Fleisch produziert wird, sollte klar verzichtet werden. Auf globaler Ebene sollten wir uns zudem mehr mit Machtfragen auseinandersetzen: Wenn Unternehmen zu viel Macht anhäufen, kann das unsere demokratischen Strukturen bedrohen. Das gilt bei Techkonzernen wie auch in der Lebensmittelindustrie. Stattdessen müssen wir uns um mehr Vielfalt und Demokratie bemühen. Das sind wichtige Beiträge zu Resilienz und Gerechtigkeit in unseren Ernährungssystemen.
*Das Interview erschien in der Dezember-Nummer von UniFOKUS