«Nachhaltige Entwicklung braucht lokales Wissen und globales Lernen»

Was auf dieser Welt nicht funktioniert, ist wissenschaftlich gut dokumentiert – von der Klimaerwärmung über Biodiversitätsverluste bis hin zu wachsenden Ungleichheiten. Deutlich weniger erforscht ist, wie sich das ändern lässt. Ein internationales Netzwerk von Wissenschaftler*innen in nachhaltiger Entwicklung hat einen Ansatz hervorgebracht, der relevant für politische Entscheide sein kann. Einer der Spezialisten auf dem Gebiet: Christoph Oberlack. Der Forscher am CDE und dem Geografischen Institut der Uni Bern über neue Möglichkeiten, wie die Nachhaltigkeitsforschung den politischen Alltag und die Praxis umgestalten kann.

portrait Christoph Oberlack
"Archetypen bieten einen systematischen Weg, um Wissen zwischen Regionen übertragbar zu machen": Christoph Oberlack.


Interview: Gaby Allheilig

Das Inventar ist gemacht, die Wissenschaft hat die Probleme dieser Welt weitgehend beschrieben. Was kann sie jetzt dazu beitragen, damit die Erkenntnisse rascher ins Handeln einfliessen?

Ein vielversprechender Weg ist die transdisziplinäre Forschung, also die gemeinsame Wissensproduktion von Wissenschaft, Entscheidungsträgern und Anspruchsgruppen aus Zivilgesellschaft und Wirtschaft. Sie findet heute schon in bestimmten gesellschaftlichen und geografischen Kontexten statt, sei es bei der Nutzung von Wasser im Wallis oder von Land in Myanmar.

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«Fallstudien sind sehr wertvoll, lassen sich aber nicht ohne Weiteres übertragen»

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Wo ist dann das Problem?

Die gewonnenen Einsichten sind vor Ort zwar sehr wertvoll, weil sie einem bestimmten Kontext angepasst sind und konkrete Lösungsansätze für eine nachhaltige Entwicklung vorstellen. Aber sie lassen sich nicht ohne Weiteres auf andere Regionen übertragen.

Warum?

Es sind Fallstudien. Diese liefern keine allgemeingültigen Muster, wie ein Problem entsteht und sich lösen lässt. Demgegenüber gibt es viele konventionelle Methoden, die nach dem Modell schlechthin suchen, das ein Phänomen über alle Einzelfälle hinweg beschreibt. Sie haben allerdings den Nachteil, dass sie meist abstrakt bleiben, weil dabei das Spezifische eines Kontexts verloren geht. Als Entscheidungsgrundlage für eine nachhaltige Entwicklung braucht es jedoch immer kontextgerechtes Wissen verbunden mit globalen Lernprozessen.

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«Das Ziel ist, Innovationen und geeignete Handlungsmöglichkeiten zu gewinnen»

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Deshalb arbeiten wir mit Archetypen. Mit ihnen können detaillierte Erfahrungen aus Einzelfallstudien ausgewertet und für andere Regionen nutzbar gemacht werden. Das Ziel ist ja, Innovationen und geeignete Handlungsmöglichkeiten zu gewinnen.

Worum handelt es sich bei der Archetypen-Forschung?

Archetypen sind Prozesse und Dynamiken, die wiederholt in verschiedenen, ganz konkreten Situationen auftreten. So gibt es beispielsweise weltweit zahlreiche Einzelfallstudien zu Land- oder Wassernutzung, so auch in der Schweiz, Bolivien und Kenia. Auf den ersten Blick erscheinen sie sehr spezifisch. Tatsächlich weisen sie aber auch Gemeinsamkeiten auf. Um diese zu finden, zerlegen wir die Einzelfälle in typische Prozesse – quasi in Legobausteine. Mit dem Archetypenansatz suchen wir nach Mustern in diesen Bausteinen. Hat man sie identifiziert, kann man Aussagen über Prozesse und Dynamiken machen, die detailliert sind und sich trotzdem verallgemeinern lassen. Auf dieser Grundlage lässt sich das entsprechende Wissen aus verschiedenen Kontexten und Regionen auf andere übertragen.

Können Sie das veranschaulichen?

Nehmen wir das Mosaik, das im Dom von Speyer vor rund zehn Jahren zu sehen war. Kinder haben auf Kacheln einzelne Zeichnungen gemacht, die zusammen ein grosses Bild ergeben. Jede Kachel ist einzigartig. Dennoch lassen sich gewisse Muster erkennen, etwa in der Farbgebung oder in der Wiederholung gewisser Sujets wie Schmetterlinge, Gesichter, Sonnenblumen, etc. Diese Muster entsprechen den Archetypen.

“Riesen-Dom-Mosaik” im Dom zu Speyer, Oktober 2010


Haben Sie auch ein konkretes Beispiel aus der Forschung?

In unserem Netzwerk haben Kolleginnen und Kollegen Forschungsarbeiten zur Anpassung an den Klimawandel in Kalifornien durchgeführt. Dort sind die Gemeinden gefordert, Mensch und Umwelt vor Risiken zu schützen, die durch die Erderwärmung entstanden sind. Es zeigte sich unter anderem, dass die Finanzierung von entsprechenden Massnahmen für viele Gemeinden ein Problem darstellt. Gleichzeitig haben andere Gemeinden bereits Lösungen dafür entwickelt. Mit den Archetypen konnten die Wissenschaftler*innen typische Probleme herausarbeiten, die bei der Anpassung an den Klimawandel auftauchen, und einen systematischen Abgleich von Problemen und Lösungen entwickeln. Jenen Gemeinden, die noch nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen, ermöglicht das Innovationen.

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«Der Abgleich von Erfahrungen aus unterschiedlichen Kontexten kann sehr wertvoll sein»

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Um bei diesem Beispiel zu bleiben: Eine Gemeinde sagte, sie könne das nicht finanzieren, weil es sich bei der Klimaerwärmung um ein globales Phänomen handelt. Eine andere argumentierte damit, dass sie dringlichere Aufgaben habe. Welches Muster lässt sich daraus ablesen – ausser, dass ihnen angeblich das Geld fehlt?

Eine Finanzierungslücke kann auf ungeklärte Verantwortlichkeiten zwischen lokalen, regionalen und nationalen Entscheidungsträgern zurückzuführen sein. Das scheinbar gleiche Problem «fehlende Mittel» kann seine Wurzel aber auch einfach in der Unfähigkeit haben, abzuschätzen, welche Folgen ein Nicht-Handeln hätte. Der Vergleich solcher Barrieren lässt es zu, die eigentlichen Ursachen eines Problems klarer herauszukristallisieren – und dann entsprechend anzugehen.

Sie halten also Ausschau nach Best Practices, die Sie dann anderen Gemeinden oder Regionen als Lösung vorschlagen?

Ja, wobei je nach Ursache andere Lösungen erforderlich sind. Ausserdem stellt sich die Frage, weshalb gewisse Best Practices in einer Situation funktionieren und in einer andern nicht. Der Abgleich von Erfahrungen aus unterschiedlichen Kontexten kann da sehr wertvoll sein – und genau das bietet die Archetypen-Forschung an.

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«Wir müssen Einsichten aus der Vergangenheit enger mit dem Wissen für die Zukunft verknüpfen»

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Ist mit der Archetypenforschung eine Art Wundermittel für nachhaltige Entwicklung gefunden?

So weit würde ich nicht gehen. Archetypen bieten einen systematischen Weg, um Wissen zwischen Regionen übertragbar zu machen. In den nächsten Schritten werden wir die Methoden weiterentwickeln müssen. Zudem stehen wir vor der Frage, wie sich die Einsichten, die wir aus der Vergangenheit und Gegenwart gewinnen, enger mit dem für die Zukunft nötigen Wissen verknüpfen lassen. So könnten wir sie besser für die Entwicklung von Szenarien nutzen und damit die Grundlage fürs Handeln liefern. Denn das Wissen über die Zusammenhänge von Ursachen und Wirkungen ermöglicht es, Folgen für die nachhaltige Entwicklung in bestimmten Szenarien besser abzuschätzen.

Sonderausgabe zu Archetypen

In der wissenschaftlichen Zeitschrift "Ecology and Society" ist soeben eine Sonderausgabe zur Archetypen in der Nachhaltigkeitsforschung erschienen. Die Beiträge dieser Sonderausgabe konsolidieren zum ersten Mal die Bedeutungen, Methoden, und Qualitätskriterien für den Archetypenansatz, und sie präsentieren innovative Einsichten in drängende Probleme der Nachhaltigen Entwickung.