Interview: Sabin Bieri, Gaby Allheilig *
Du bist seit 2017 Präsident des strategischen Gremiums des CDE, dem Board, und seit 2010 dessen Mitglied. Mit deiner Pensionierung wirst du auch diese Funktion aufgeben. Was waren für dich die wichtigsten Veränderungen am CDE in dieser Zeit?
2010 war das CDE gerade aus dem Nationalen Forschungsschwerpunkt NCCR Nord-Süd hervorgegangen und es war deutlich zu spüren, dass es sich seinen Platz unter den Zentren der Universität Bern noch verdienen musste. Das Thema Nachhaltigkeit war gesellschaftlich und für die Universität zwar damals schon wichtig, aber noch kein strategisches Ziel. Das hat sich seither unter dem Eindruck der akuten Klimakrise, des Biodiversitätsverlusts und der sozialen Disruptionen durch die extraktiven Industrien im globalen Süden geändert. Das CDE spielt in der strategischen Ausrichtung der Universität Bern punkto Nachhaltigkeit heute eine zentrale Rolle.
Und was waren die grössten Highlights?
Aus meiner Sicht gibt es drei Momente, in denen das CDE entscheidende Phasen durchgemacht hat. Zum einen, als die Universitätsleitung 2013 das CDE beauftragte, die Nachhaltigkeitsstrategie der Universität zu formulieren. Das hat Weichen gestellt. Zum anderen war es ein spannender Moment, als das CDE wesentlich zur Gründung der Wyss Academy for Nature beigetragen hat und die Uni Bern damit ein zweites Standbein in der Nachhaltigkeitsforschung erhielt. Der dritte Höhepunkt war, dass es das CDE erfolgreich geschafft hat, in dieser Situation sein Profil zu schärfen, und heute für die Zukunft gut gerüstet ist.
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«Die Wissenschaft scheint ihre einstige Definitionsmacht über den Begriff Nachhaltigkeit teils an die Marketingabteilungen verloren zu haben»
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Gibt es für dich auch aus Sicht der Forschung eine Sternstunde?
Das Projekt FATE war für mich als Sozialanthropologe und Mitglied der Projektleitung eine grossartige Erfahrung, einerseits wegen der tiefen Einblicke in die wirtschaftlichen und sozialen Transformationen im ländlichen Raum, die in der Zusammenarbeit mit Forschungspartnern in Laos, Bolivien, Nepal und Ruanda möglich wurden. Andererseits, weil ich die Arbeitsweise des CDE miterlebte, die in den Forschungspartnerschaften auf langfristige Zusammenarbeit auf Augenhöhe setzt. Und ausserdem hat es mich enorm gefreut zu sehen, wie viele Dissertationen aus diesem Projekt entstanden sind, wie die Wissenschaftler*innen in ihren Ländern Karriere machen konnten, aber auch, wie Forschungsergebnisse in den Partnerländern in die Politik eingeflossen sind. Für mich war das ein gutes Beispiel, wie Forschungspartnerschaften zwischen Süden und Norden etwas bringen können.
Vor einigen Jahren bewegte sich das CDE mit dem Thema nachhaltige Entwicklung und den entsprechenden Ansätzen noch in einer Nische. Inzwischen sind wir damit im Mainstream gelandet. Wie schätzt du die Entwicklung der Nachhaltigkeitsdebatte ein?
Ursprünglich stammt der Begriff Nachhaltigkeit ja aus der Forstwirtschaft. In den 1970er und 80er Jahren wurde Nachhaltigkeit von der ökologischen Bewegung als Alternative zu der auf Wachstum ausgerichteten kapitalistischen Entwicklung betrachtet. Der Brundtland-Bericht von 1987 legte die Grundlage des gegenwärtigen wissenschaftlichen Verständnisses von Nachhaltigkeit, das ökologische, wirtschaftliche und soziale Dimensionen hat und das auch für das CDE zentral ist. Aber der Begriff entwickelt sich weiter.
Heute wird Nachhaltigkeit auch als Markt verstanden. Zwischen ernsthaften Bemühungen um einen Grünen Kapitalismus und zynischem Greenwashing gibt es da alle Übergänge. Es ist zwar ein Erfolg der ökologischen Bewegung inner- und ausserhalb der Akademie, dass die Forderung nach Nachhaltigkeit heute selbst in der Wirtschaft unbestritten ist. Allerdings scheint die Wissenschaft ihre einstige Definitionsmacht über den Begriff teilweise an die Marketingabteilungen extraktiver Industrien verloren zu haben. Ich denke, hier sollte das CDE die Aufgabe übernehmen, vermehrt mit den Akteuren der Wirtschaft ins Gespräch zu kommen.
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«Es ist an der Zeit zu untersuchen, wie wirtschaftsnahe Interessengruppen und Grosskonzerne versuchen, den Nachhaltigkeitsdiskurs zu kontrollieren»
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Welche Rolle hat das CDE deines Erachtens bisher in der Nachhaltigkeitsforschung gespielt?
Das CDE und seine Vorläuferorganisationen decken insgesamt einen Grossteil der Geschichte der jüngeren Nachhaltigkeitsforschung ab, die mit dem Bericht des Club of Rome 1972 ihren Anfang nahm. Dieser Bericht inspirierte direkt die Gründer des CDE, Hans Hurni und Urs Wiesmann, als sie Ende der 1980er Jahre eine ganzheitliche Forschung begannen, die ökonomische und soziale Entwicklung und Erhaltung der natürlichen Umwelt zusammenbrachte. Sie entwickelten Methoden, Konzepte und Theorien für die Forschung, engagierten sich aber auch für die praktische Umsetzung ihrer Erkenntnisse. Das verschaffte der Berner Nachhaltigkeitsforschung national und international grosse Beachtung. Indem sie eng mit Entwicklungsorganisationen zusammenarbeiteten, etablierten sie das Verständnis von Nachhaltigkeitsforschung als transformative Wissenschaft. Sie bezahlten für diese Innovation lange mit einem gewissen Aussenseiterstatus gegenüber der «reinen» Forschung. Aber letztlich prägten sie den Diskurs mit, der heute wissenschaftlich breit abgestützt und gesellschaftlich wirkmächtig geworden ist.
Welches sind die brennendsten Fragen für die Wissenschaft in den kommenden Jahren punkto Nachhaltigkeit?
Ich denke, es ist an der Zeit, die Mechanismen zu untersuchen, wie wirtschaftsnahe Interessenverbände und Grosskonzerne versuchen, den Nachhaltigkeitsdiskurs zu kontrollieren, um grundlegende Änderungen an unnachhaltigen Wirtschaftsmodellen zu verhindern. Ein grosses Potenzial birgt insbesondere die kritische Forschung über die «nachhaltigen» Produkte der Finanzwirtschaft. Dies wäre auch im Sinne einer wachsenden Zahl von Investoren, die explizit nachhaltig investieren wollen, aber dann mit weitgehend konventionellen Investitionsmöglichkeiten abgespeist werden.
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«Die Sozialanthropologie kann mit ihrem Fundus an Wissen über traditionelle Gesellschafts- und Wirtschaftsformen der Debatte wichtige Impulse geben»
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Wie hat der Nachhaltigkeitsdiskurs in deinem Fach, der Sozialanthropologie, Widerhall gefunden?
Er fiel in unserem Fach auf sehr fruchtbaren Boden. Die Sozialanthropologie hat sich seit ihren Anfängen mit vorkapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsformen befasst, die kleinräumig und auf Subsistenz ausgerichtet waren und deshalb auch schonend mit den lokalen Ressourcen umgingen. Solche indigenen und lokalen Gesellschaften standen nicht unter Wachstumszwang und funktionierten auf sozial inklusive Weise. Sie erfüllten also alle Kriterien der Nachhaltigkeit vorbildlich. Natürlich darf man sie allein deshalb nicht idealisieren. Aber der Fundus an Wissen und Lektionen, welche die Sozialanthropologie aus solchen traditionellen Beispielen bereithält, kann die Debatte über nachhaltigere Wirtschaftsformen durchaus befruchten und wichtige Impulse geben.
Unsere Disziplin interessiert sich aber auch für alternative, nicht auf Wachstum ausgerichtete Wirtschaftsformen, mit denen engagierte Gruppen heute in unserer Gesellschaft experimentieren, sowie für die Transformation in Richtung von mehr Nachhaltigkeit beispielsweise innerhalb der OECD oder in regionalen und globalen Lieferketten. Gegenüber naturwissenschaftlichen Fächern legt sie dabei ein besonderes Augenmerk auf die kulturellen, soziostrukturellen und politischen Voraussetzungen von nachhaltiger Entwicklung.
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«Den Schweizer Missionaren galt unsere offizielle Entwicklungszusammenarbeit als viel zu ungeduldig»
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Du warst vor einigen Jahren auch an einem Projekt zu Missionaren als Nachhaltigkeitsakteure beteiligt – eigentlich eine unerwartete Gruppe im Zusammenhang mit nachhaltiger Entwicklung. Was waren da deine Erkenntnisse?
Nach dem Ende der Kolonialherrschaft übernahmen die christlichen Missionen gerade in mehrheitlich muslimischen Ländern wie Indonesien mehr und mehr weltliche Aufgaben in ihren Gemeinden wie Ernährungssicherung, Gesundheitsförderung und Erziehung – insbesondere in entlegenen Gebieten. In den 1960er und frühen 1970er Jahren gab es eine starke Bewegung im Weltkirchenrat, die ihre Aufgabe darin sah, die Schöpfung zu bewahren und sozial inklusiv zu arbeiten. Die Schweizer Missionare, die wir innerhalb des Forschungsprojekts besuchten, haben sich auf dieses Verständnis bezogen. Dabei war es interessant zu erfahren, wie sie sich über unsere offizielle Entwicklungszusammenarbeit äusserten. Diese sei aufgrund ihrer Erfahrungen viel zu ungeduldig und verlange innerhalb von wenigen Jahren messbare Resultate. Dahinter konnten sie nicht stehen, weil sie der Ansicht waren, man müsse Entwicklung langsam und sorgfältig angehen und sie müsse von den Gemeinden getragen werden. Die Zeiten der Missionare sind vorbei, doch es war sehr interessant, diese Geschichte aufzuarbeiten.
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«Studierende können dazu beitragen, dass der soziale und ökologische Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft gelingt»
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Das CDE plant, an der Uni Bern ein Hauptfach-Studium «Master in Nachhaltigkeitstransformationen» zu lancieren. Was ist für die Ausbildung der Studierenden besonders wichtig?
Nachhaltigkeitsforschung ist fundamental inter- und transdisziplinär. Daher ist es wichtig, dass die Studierenden lernen, die Erkenntnisse aus verschiedenen Disziplinen für ihre Fragestellungen und Analysen zu berücksichtigen. Ein Stück weit könnten dazu interdisziplinär zusammengesetzte studentische Projektgruppen beitragen. Wenn die Studierenden die Interdisziplinarität als bereichernd erfahren, werden sie diese später in ihrer wissenschaftlichen und beruflichen Praxis anwenden und weitertragen. Für den Erfolg einer transformativen Nachaltigkeitswissenschaft wird das entscheidend sein.
Und was gibst du als abtretender Professor den Studierenden mit auf den Weg?
Die Geschichte des CDE zeigt, dass es einen langen Atem braucht, um etwas zu bewirken. Wenn sie dran bleiben, können sie das Konzept einer transformativen Wissenschaft in ihren angestammten Disziplinen und in den verschiedensten Praxisfeldern verankern und so dazu beitragen, dass der nötige ökologische und soziale Umbau unserer Wirtschaft und Gesellschaft gelingt.
Und welche Pläne hegst du persönlich?
Ich habe ein grosses Bedürfnis, wieder mehr zu schreiben. Als Professor fehlte mir die Zeit, an grösseren Publikationen zu arbeiten. Jetzt freue ich mich darauf, alte Projekte wieder aufzugreifen und auch Neues zu beginnen. Eine Bibliothek habe ich mir schon eingerichtet. Es ist alles bereit, damit ich loslegen kann.
*Das Interview erschien im CDE-Jahresbericht 2022 in Englisch.