«Die Berge leiden unter der Hitze»

Vom 7. bis 18. November 2022 findet die nächste UN-Klimakonferenz in Sharm el-Sheikh statt. Carolina Adler, Geschäftsführerin der Mountain Research Initiative (MRI), CDE-Wissenschaftlerin und eine der Hauptautor*innen des letzten Berichts des Weltklimarats, wird dabei sein. Sie unterstreicht die Bedeutung der Konferenz für die Bergregionen und sagt: «Ich hoffe, dass der Schwung, jetzt zu handeln, nicht verloren geht.»

«Die vor fast 30 Jahren gemachten Prognosen zum Klimawandel in den Bergen haben sich nicht – wie angenommen – erst Mitte des 21. Jahrhunderts manifestiert, sondern sind bereits in den letzten zehn Jahren eingetreten»: Carolina Adler. Foto: Grace Goss-Durant / MRI


Interview: Heather Turnbach*

Zum ersten Mal seit 30 Jahren hat der Weltklimarat in seinem Bericht von Anfang 2022 den Bergregionen ein eigenes, übergreifendes Kapitel gewidmet. Welche Bedeutung messen Sie dem bei?

Es ist von enormer Bedeutung für die Gemeinschaft der Berggebiete, gerade auch nachdem die UN-Generalversammlung 2022 zum «Internationalen Jahr der nachhaltigen Entwicklung der Berggebiete» ausgerufen hat. Das Kapitel zu den Bergen war eine einzigartige Gelegenheit, verschiedene Erkenntnisse und gebirgsbezogene Inhalte aus dem Bericht der Arbeitsgruppe II sowie dem Beitrag zum sechsten Sachstandbericht des Weltklimarats zusammenzuführen – und einen globalen Überblick über den Zustand der Berge in einem sich verändernden Klima zu geben.

Wir haben wissenschaftliche Nachweise von mehr als 20 Jahren zusammengetragen, die zeigen, dass die Berge einer der wichtigsten Hotspots des beschleunigten Klimawandels sind. Eine wichtige Erkenntnis war: Die vor fast 30 Jahren gemachten Prognosen zum Klimawandel in den Bergen haben sich nicht – wie angenommen – erst Mitte des 21. Jahrhunderts manifestiert, sondern sind bereits in den letzten zehn Jahren eingetreten. Die Berge leiden unter der Hitze.

Dass es erst jetzt zu einem speziellen Berg-Kapitel kam, könnte man auch als Vernachlässigung interpretieren – zumal Berggebiete von der globalen Erwärmung besonders betroffen und unter anderem zentral für die Wasser- und Energieversorgung sind.

Wir sehen es eher als Erfolg unserer hartnäckigen Bemühungen der vergangenen Jahre, um diese Zusammenhänge zu erkennen und anzupacken. Für die Zukunft erwarten wir jedoch, dass es nicht wieder 30 Jahre lang geht, bis ein weiteres Bergkapitel folgt. Wir alle haben die Aufgabe und die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die Berge den Raum erhalten, den sie verdienen. Es ist eine konstante Aufgabe, sich in einem politischen Prozess zu engagieren.

___________________________________________________________________________________

«Unser Bericht ergab, dass die Verfügbarkeit von Wasser mit Sicherheit beeinträchtigt wird»

___________________________________________________________________________________

Wasser spielt im Bergkapitel eine wichtige Rolle. Die Zahl der Menschen, die weltweit direkt oder indirekt vom Wasser aus Bergregionen abhängen, ist von 0,6 Milliarden in den 1960er Jahren auf zwei Milliarden im letzten Jahrzehnt gestiegen. Gleichzeitig nimmt dieses Wasser langfristig ab, weil die Gletscher infolge der globalen Erwärmung schmelzen. Wann geht uns das Wasser aus?

Das hängt auch von der Nachfrage nach Wasser und dem Zugang dazu ab. Die Aussichten werden von einer Kombination aus klimatischen und nicht klimabezogenen Faktoren bestimmt. Unser Bericht ergab, dass die Verfügbarkeit von Wasser mit Sicherheit beeinträchtigt wird. Stärkere, unregelmässigere Niederschlagsmuster und ein erhöhter Abfluss infolge der Gletscherschmelze wirken sich auf den Zeitpunkt der Höchstwasserstände aus. In einigen Gebieten verschiebt sich aufgrund veränderter landwirtschaftlicher Praktiken auch der Bedarf an Wasser für die Bewässerung. Man muss also viele dynamische und zusammenhängende Faktoren berücksichtigen. Aber insgesamt sehen wir Veränderungen, die sich auf die netto verfügbare Wassermenge auswirken – nur schon wegen den dramatischen Entwicklungen in der Kryosphäre, die wir heute bereits erleben.  

________________________________________________________________________________________

«Wir haben die Erkenntnis gewonnen, dass die Grenzen der Anpassung in den Bergen ernsthaft in Betracht zu ziehen sind»

________________________________________________________________________________________

Und was ist mit Wasser als Energiequelle?

Ein wichtiges Thema, das wir untersucht haben, waren die Risiken, die mit Ereignissen wie Erdrutschen, instabilen Berghängen, dem Auftauen des Permafrosts, dem Rückzug der Gletscher und anderen Veränderungen in der Kryosphäre verbunden sind. Das wirft auch Fragen auf, wie wir Wasser für Energiezwecke nutzen. Anhand von verschiedenen Untersuchungen haben wir zum Beispiel festgestellt, dass mit zunehmendem Gletscherrückgang auch die Menge der freigesetzten Sedimente zunimmt. Deshalb wird man sich überlegen müssen, was das für die Langlebigkeit und Wartungskosten für die Infrastruktur, etwa Turbinen, bedeutet. Das für die Stromerzeugung verfügbare Wasser ist mithin nur einer von vielen Faktoren, die bei langfristigen Überlegungen zur Energieversorgung und Infrastruktur berücksichtigt werden müssen.

Was ist Ihrer Meinung nach realistisch und machbar, um die Auswirkungen des Klimawandels in Bergregionen im Allgemeinen zu bewältigen – und wo liegen die Grenzen?

Wir haben die Erkenntnis gewonnen, dass die Grenzen der Anpassung in den Bergen ernsthaft in Betracht zu ziehen sind. Der Grad der Erwärmung beeinflusst auch die Funktionsfähigkeit von Ökosystemen. Daher können wir davon ausgehen, dass bestimmte natürliche und auf Ökosystemen basierende Anpassungen bei niedrigeren Emissionsszenarien besser funktionieren als bei höheren.

___________________________________________________________________________________

«Künftig kann der Klimawandel zu tiefgreifenden Veränderungen und irreversiblen Verlusten in Bergregionen führen»

___________________________________________________________________________________

Gibt es Grenzen, die wir bereits überschritten haben?

Der sechste Bericht des Weltklimarates hat einen Systemansatz gewählt, um zu untersuchen, wie klimatische und nicht-klimatische Faktoren zusammenhängen und wie sich das in den damit verbundenen Auswirkungen und Risiken manifestiert. Die Ursachen für den Verlust der biologischen Vielfalt beispielsweise sind nicht nur auf den Klimawandel zurückzuführen, sondern auch menschlichen Aktivitäten geschuldet.

Unser Bericht hat sich mit diesen Zusammenhängen befasst und sendet die wichtige Botschaft an die politischen Entscheidungsträger, all diese anderen Aspekte ebenfalls zu berücksichtigen. Sie hat gezeigt, dass der Klimawandel künftig zu tiefgreifenden Veränderungen und irreversiblen Verlusten in den Bergregionen führen kann – einschliesslich eines erhöhten Risikos für das Aussterben von Top-Arten der Berggebiete, sofern diese nicht mehr in höhere Lagen oder andere kühlere Gebiete ausweichen können. Die Frage, ob bestimmte Grenzen oder Schwellenwerte bereits überschritten wurden, ist Gegenstand laufender Monitoring- und Forschungsarbeiten. Sie werden entscheidend zu solideren Grundlagen beitragen, mit denen sich in künftigen Berichten die entsprechenden Schlüsse für Bergregionen ziehen lassen.

Die nächste UN-Klimakonferenz, die COP27, findet bald statt. Wie könnte sich der jüngste Bericht des Weltklimarats, insbesondere das Kapitel über Berge, dort auswirken?

Eine der wichtigsten Prioritäten an dieser Konferenz die Frage der Anpassung. Es wird erwartet, dass weitaus mehr technische, praktische und finanzielle Details zu den Anpassungsmassnahmen zur Sprache kommen. Denn es ist nicht nur wichtig, wie gut es uns gelingt, die Erderwärmung auf 1,5 °C zu begrenzen, die im Pariser Abkommen festgelegt sind, sondern es geht auch darum, die finanziellen Zusagen jener Länder im Auge zu behalten, die sich verpflichtet haben, Anpassungsmassnahmen zu unterstützen.

Im Kapitel über die Berge haben wir nachgewiesen und sind zu dem Schluss gekommen, dass «das derzeitige Tempo, die Tiefe und der Umfang der Anpassungsmassnahmen nicht ausreichen, um künftige Risiken in Bergregionen zu bewältigen, insbesondere bei einer stärkeren Erwärmung». Das ist ein zentrales Ergebnis, das wir auf der COP27 weiter ausbauen und mit den Stakeholdern diskutieren wollen. Ein weiterer Schwerpunkt der COP27 werden die Verluste und Schäden an Menschen und Infrastrukturen sein, die im Zusammenhang mit Klimaauswirkungen stehen. Zweifellos wird es eine Menge an Überzeugungs- und Lobbyarbeit brauchen, um sicherzustellen, dass in den Diskussionen solche Verluste bzw. Schäden sowie die Klimagerechtigkeit eine grössere Rolle spielen.

__________________________________________________________________________________

«Für mich ist das übergreifende Kapitel über die Berge Teil eines echten, aktiven Dialogs zwischen Wissenschaft und Politik»

__________________________________________________________________________________

Was ist Ihre grösste Hoffnung für die Zukunft der Berge?

Für mich ist das übergreifende Kapitel über die Berge ein Mittel zum Zweck und Teil einer Reise eines echten, aktiven Dialogs zwischen Wissenschaft und Politik – eines Dialogs, der an dringend benötigter Dynamik gewinnt. Der Inhalt dieses Kapitels ist eine Gelegenheit, sich damit zu befassen, was für den Schutz der Berge sowie der Ökosysteme und Menschen auf der ganzen Welt, die von ihnen abhängen, wesentlich ist. Ich hoffe, dass dieser Schwung nicht verloren geht!

Zudem braucht es fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse, die diesen Inhalt weiter untermauern und die dazu beitragen, Entscheidungen zu Bergregionen zu unterstützen. Ich hoffe, dass die nächste Generation, vor allem die Nachwuchswissenschaftler*innen, diese Art von globalen Berichten als wichtige Gelegenheit sieht – nicht nur für ihre Karriere und ihre berufliche Entwicklung – sondern auch, um etwas Grundlegendes für unsere Bergregionen zu leisten und Teil des Engagements zu sein, das auch in der Wissenschaftsgemeinschaft benötigt wird.

Berge sind einzigartige sozioökologische Systeme. Es gibt aber auch Forschungsergebnisse und Lessons Learned aus verschiedenen anderen Disziplinen, die zwar nicht bergspezifisch, aber sehr relevant für mögliche Lösungen sind, die wir uns im Zusammenhang mit dem Klimawandel für die Zukunft der Berge erhoffen.

*Heather Turnbach ist Kommunikationsverantwortliche bei der Mountain Research Initiative

Quellen und weitere Informationen