Bildung, ein Hebel für die grosse Veränderung

Ohne sie wären weder die Bildung für Nachhaltige Entwicklung an der Universität Bern noch das CDE das, was sie heute sind: Anne Zimmermann und Karl Herweg, zwei Vorkämpfer*innen in Sachen transformatives Lehren und Lernen, übergeben an die nächste Generation. Nicht im stillen Kämmerlein, sondern mit Klartext, Humor und einem ungebrochenen Engagement für eine nachhaltigere Welt. Oder um es mit einer ihrer Wendungen zu sagen: «Wie sich das gehört.»

«Die akademische Welt alleine kann keine Lösungen bringen»: Karl Herweg und Anne Zimmermann waren 22 Jahre gemeinsam in Sachen Bildung für Nachhaltige Entwicklung unterwegs.


Text: Gaby Allheilig │Cartoons: Karl Herweg │Fotos: CDE

Eigentlich wäre sie schon seit Monaten nicht mehr im Büro anzutreffen. Aber bei Anne Zimmermann ist der Ruhe- ein Unruhestand. Es gibt noch so viel zu übergeben und aufzugleisen. Dass die Zeit viel zu rasch vergeht, ist aber nicht erst am Schluss ihres Erwerbslebens so. «Als sie zu uns stiess, ging es nicht lange, bis wir merkten, dass sie manchmal im Büro auf einer Matte schlief, weil es ihr nicht mehr reichte heimzukehren», scherzt einer ihrer Arbeitskollegen und schiebt augenzwinkernd nach: Man habe dann ein Sofa angeschafft, «damit sie etwas weicherliegend übernachten kann.»

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Auch Karl Herweg gehört zu den Unruhigen. Dass er sich neben viel Lehre und «ein bisschen Forschung» auch in Cartoons mit seinem Arbeitsbereich auseinandersetzt und komplexe Dinge träf auf den Punkt bringt, ist seine bekanntere Seite.

«Die schwierigste Turnübung ist immer noch, sich selbst auf den Arm zu nehmen!»


Dass ihn die Ungeduld treibt, würde man dem sonst gelassen wirkenden Rheinländer auf den ersten Blick hingegen weniger geben. «Als Geomorphologe habe ich nach meiner Dissertation zunächst im Bereich Bodenschutz und Wasserkonservierung in Äthiopien gearbeitet, dann aber gemerkt: Es dauert viel zu lange, bis etwas aus der Forschung in der Praxis umgesetzt wird.» Ende der 1980er Jahre wurde ihm zudem klar: «Wir können Technologien en masse entwickeln – wenn diese nicht gleichzeitig sozialverträglich und wirtschaftlich sind, wendet sie niemand an.»

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Und wenn doch? Dann komme es so heraus wie bei der Grünen Revolution, ist Anne Zimmermann überzeugt. «Aus der Agrarperspektive hatte man das Gefühl: Wenn wir Hochleistungssorten anbauen und moderne Technologien einsetzen, ist das Problem Hunger vom Tisch. Dem war aber überhaupt nicht so.» Man habe total vergessen, dass da auch noch Menschen, Kulturen, eine Wirtschaft involviert sind – und natürlich «eine Natur, die gar nicht so viele Pestizide schlucken konnte, wie ausgebracht wurden.» Sowohl sie wie Karl Herweg sind überzeugt: Die Herausforderungen sind heute so komplex, dass keine Disziplin alleine fähig ist, nachhaltige Lösungen liefern zu können.

Interdisziplinarität


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Interdisziplinarität braucht disziplinäres Wissen, dem pflichtet Anne Zimmermann bei. «Wenn man sich nicht buchstäblich diszipliniert, kann man auch nicht klar denken. Und klar denken bedeutet wiederum auch zu merken, dass man die Lösung alleine nicht finden kann.»

Karl Herweg: «Na ja, ich würde das etwas relativieren. Wir wissen ja nicht, wie es wäre, wenn wir holistisch ausgebildete Generalist*innen hätten. Ich glaube, Disziplinarität kann eine Voraussetzung für die Interdisziplinarität sein, aber auch ein Hindernis: Nur, wenn jemand die entsprechenden Sozialkompetenzen mitbringt und sich nicht nur für den eigenen Kram interessiert, dann ist das eine gute Voraussetzung für interdisziplinäres Arbeiten.»

Anne Zimmermann: «Man muss schon den disziplinären Habitus haben, sonst…»

Karl Herweg (unterbricht sie): «Wer weiss? Vielleicht ginge es ja ohne.»

Anne Zimmermann: «Dann wären wir in einem vollständig anderen System!»

Karl Herweg: «Genau. Ich sage ja nicht, dass alle disziplinär oder alle interdisziplinär arbeiten sollen. Es braucht beides.»

Anne Zimmermann: «Genau.»


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22 Jahre haben die Sprach- und Literaturwissenschaftlerin sowie der Geograf zusammengearbeitet, fünf davon als Co-Leitende des Bereichs Bildung für Nachhaltige Entwicklung am CDE. Gemeinsam mit anderen Wissenschaftler*innen haben sie unter anderem auf vier Kontinenten in der International Graduate School North-South Doktorandinnen und Doktoranden unterrichtet und betreut. Für beide, ohne zu zögern, ein «absolutes Highlight». «Da gab es plötzlich eine Welt, die offen war, in der Dinge möglich waren, die ich nie für möglich gehalten hätte», fasst Anne Zimmermann stellvertretend die Erfahrungen in einem breiten, interdisziplinären und interkulturellen Umfeld zusammen. 


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Der Schlüssel dazu war aber nicht nur die Inter-, sondern auch die Transdisziplinarität. «Die Interdisziplinarität ist zwar nötig, um einseitige Ansätze zu überwinden. Aber sie allein genügt nicht, weil dann immer noch die Denkweise und Handlungsgewohnheiten von Akademiker*innen die Lösungsvorschläge beeinflussen. Diese werden oft entweder missverstanden oder eins zu eins übernommen, was ebenfalls nicht funktioniert», so Anne Zimmermann. Deshalb müsse man Wissen mit anderen gesellschaftlichen Akteuren gemeinsam erschaffen. Anders formuliert: «Die akademische Welt alleine kann keine Lösungen bringen.»

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Trotzdem ist es für beide keine Frage: Wissenschaft ist eine Notwendigkeit. Wobei Anne Zimmermann auch bei den Studierenden in den CDE-Studienprogrammen feststellt: «Sie wollen nicht nur forschen, sondern auch etwas verändern.» Hier eine Balance zu finden, sei zentral. Es ist typisch für sie, dass dann noch der Satz folgt: «Ich möchte den jungen Leuten helfen, diese Balance zu finden, so dass sie dort tätig sein können, wo sie einerseits intellektuell und seelisch zu Hause sind und andererseits möglichst etwas bewegen können.»


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Sie selbst scheint diese Balance gefunden zu haben – bloss wie? «Nach dem Serendipity-Prinzip, ganz klar.» Die ahnungslose Zuhörerin lernt: Auf der Suche nach etwas Bestimmtem findet man demnach zufällig etwas ganz Anderes – und das ist genau das Richtige. Bei Anne Zimmermann verlief das so: «Ich habe keine zielstrebige Karriere gemacht.» Dann ein herzhaftes Lachen: «Das hat der Karl ja auch nicht.» Die Dinge seien einfach passiert. «Die Kunst liegt darin, den Sinn in dem zu finden, was geschieht und weiteren Sinn daraus zu schaffen.» So ist sie letztlich in ihrer Tätigkeit am CDE angekommen.

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Ähnlich erging es Karl Herweg. Er arbeitete am CDE in vielen Projekten, bis er realisieren konnte, was seiner Idealvorstellung entsprach: «Forschung, Lehre und Umsetzung in einem Paket – und das vor der eigenen Haustüre». Damit meint er seine Lehrtätigkeit am CDE und dem Geographischen Institut der Uni Bern. Mit Bund, Kanton, Bauern und Agroscope aufgebaut, lernen Studierende und Unterrichtende am Frienisberg in einer Art Reallabor seit 15 Jahren die Integration von physischer und Humangeographie. «Die Lehre war und ist für mich ein unmittelbares Mittel zur Umsetzung des Wissens – im Sinne von Wissen transdisziplinär, das heisst mit Leuten aus Wissenschaft und Praxis, gemeinsam erarbeiten.»


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Diese Art der Co-Produktion von Wissen verbunden mit dem Ziel einer grossen Transformation zur nachhaltigen Entwicklung haben die beiden am CDE massgeblich geprägt. Zumal «wir über eine grundsätzliche Veränderung des Systems nachdenken müssen, das unter dem Mantra ständigen Wachstums die Ressourcen zuverlässig zerstört», erklärt Karl Herweg.

Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) erschöpft sich daher nicht in der Entwicklung und Vermittlung von Wissen, wie man vom gegenwärtigen zum gewünschten Zustand gelangt. Vielmehr geht es zusätzlich um die Förderung aller Kompetenzen, die es dazu braucht. «Zum Beispiel wie die gesamte Universität ihr Selbstverständnis in Richtung Nachhaltigkeit weiterentwickeln kann», bemerkt Anne Zimmermann. «Dabei müssen sich alle an der Universität als Lernende verstehen, nicht nur die Studierenden.»

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Genau daran haben sie in den letzten Jahren gearbeitet: BNE an der ganzen Universität zu verankern – im Auftrag der Uni. Dabei sind alle Institute gefordert, in ihrem Fachgebiet zwei Stunden für Themen der nachhaltigen Entwicklung in die Lehrpläne einzubauen. Dafür erhalten sie die entsprechende Beratung.

Ob zwei Stunden nachhaltig sein können? «Die Uni macht vieles gut, um zur nachhaltigen Entwicklung beizutragen, aber so wie sie strukturiert ist, bleibt sie unter ihren Möglichkeiten», findet Karl Herweg. «Aber als wir das BNE-Mandat erhielten, dachte ich: Das passt mir. Daran kann ich arbeiten.» Der Auftrag biete ja Gestaltungsmöglichkeiten – auch um die Universität selbst zu transformieren. «Allerdings dauert das wohl noch etwas länger. Da müssen wir wohl noch eine Schippe drauflegen», schmunzelt er.

Universitäre Bildung für Nachhaltige Entwicklung – eine Hürde, die neue Perspektiven eröffnet.


Drängt sich die Frage auf, ob es nicht an der Zeit ist, einen BNE-Lehrstuhl an der Uni Bern einzurichten – es wäre der erste in der Schweiz. «Unbedingt!» «Ja, ganz dringend!» Und für beide steht auch fest: Das müsste man zusammen mit den beiden anderen Berner Hochschulen tun. Wie aber steht es um die Chancen, dass sich so etwas realisieren lässt? Die Möglichkeiten abwägend kommt Karl Herweg zum Schluss: «Vielleicht würden diese gar nicht so schlecht stehen, wenn man es gut vorbereitet.» Derweil der Fall für Anne Zimmermann glasklar ist: «Wenn man keine Vision hat, kann man keine Veränderung erreichen.»