Weihnachtssterne aus der Vertikalen

Episode 1, Staffel #1

Sabin Bieri

Zu Weihnachtssternen (euphorbia pulcherrima) habe ich ein gespaltenes Verhältnis. In meiner Erinnerung stehen sie ab Beginn der Hochnebelsaison in wohlgeordneten Wohnzimmern kleinbürgerlicher Reiheneinfamilienhäuser auf einem Beistelltisch, gekachelte Oberfläche, penibel poliert. Darunter eine Häkeldecke, die Dutzende Male am Tag glattgestrichen wird, und trotzdem immer Falten wirft – als wolle sie die Hausfrau ärgern. – Die Erinnerung ist alt, keine Frage. Genauso wie Personal und Ausstattung des Salons. Bis hin zum Hochnebel – aber das würde hier den Rahmen sprengen.

Foto: Iris_art / shutterstock


Das sterile Äussere der Zimmerpflanze weckt einen kleinen Zweifel, ob sie tatsächlich echt sei. Sie wirkt nicht nur exotisch, sie ist es auch. Und dies ist der eine Grund, weshalb sich mein Verhältnis zu ihr etwas entspannt hat. Seit wir mit Forschungspartner*innen in Laos Projekte zur Kaffee-Wertschöpfungskette und lokalen Arbeitsmärkten entwickeln, habe ich ganz andere Formate von Weihnachtssternen kennen gelernt. Dort sind das keine artigen Stubenpflänzchen, sondern ausladende Büsche, in allen Schattierungen von Rot, Koralle und Bordeaux, dazwischen durchsetzt mit apartem Eierschalenweiss. Eine Farbe, die im Übrigen auf den zweiten Grund verweist, weshalb sich mein Unbehagen gegenüber Weihnachtssternen etwas abgedämpft hat. Sie machen sich echt gut auf einem mid-century sideboard aus Teak und verleihen den skandinavischen Möbeln, die in den Einrichtungsblogs en vogue sind, genau das richtige Mass an Patina.

Das Give-away aus dem Venture Lab

Als Mitglied einer Expert*innengruppe des Deutschen Wissenschaftsrats wurde mir kürzlich ein solcher Weihnachtsstern als Give-away überreicht. Gezüchtet wurde er in einem vollkommen Patina-befreiten agri-food Venture Lab der Technischen Universität München. Die TUM ist mit 50'000 Studierenden und über 600 Professor*innen zwar nicht die grösste Universität Deutschlands. Aber sie spielt in der obersten Liga, und sie glänzt mit einer hohen Zahl von Start-ups, darunter eine stattliche Zahl der begehrten «Einhörner», die noch vor dem Börsengang einen Marktwert von über eine Milliarde Euro erwirtschaften.

Innovationen in den Agrar-, Ernährungs- und Biowissenschaften tragen substanziell zu diesem Status bei. Bei der Bekämpfung des Welthungerproblems setzen die Wissenschaftler*innen der TUM auf Hightech-Lösungen wie Vertical Farming. Auch mein eierschalenfarbener Weihnachtsstern ist in einem klimatisierten Container gewachsen, wo auf mehreren Etagen Pflanzen in einem löslichen Substrat bei LED-Beleuchtung gehalten werden.

Das hat grosse Vorteile, weil es Fläche spart, den Wasserverbrauch reduziert und die Nährstoffe ganz gezielt zugeführt werden. In dem von uns besuchten Labor wuchsen Züchtungen, die sich durch eine hohe Konzentration an Proteinen auszeichnen – derzeit ein besonders nachgefragter Inhaltsstoff.

Hightech, High End statt Vektor Mensch

Die Bilanz des Energieverbrauchs ist einer der Schwachpunkte, der Eintrag von Keimen durch menschliches Einwirken die Achillesferse. Derzeit tüfteln die Wissenschaftler*innen der TUM an Systemen, die hochautomatisiert sind, weil eine solche Anlage hohe Anforderungen an die Hygiene stellt. Die Zukunft gehört Produktionsanlagen, die vollkommen ohne den «Vektor Mensch» funktionieren. Die Betriebsleiterin oder der Betriebsleiter steuern fernbedient vom Desktop aus.

Smart Farming. Foto: Es sarawuth / shutterstock


Für die Weiterentwicklung der Münchner Projekte in diese Richtung ist es überaus praktisch, dass auch das Venture Lab für Artificial Intelligence und Robotics um die Ecke liegt. Dort wird uns später ein kleiner Roboter vorgeführt, der gezielt ein Unkraut aus den Böden herausschraubt, das nicht nur den bayrischen Biobetrieben das Leben schwer macht. Weil im Ökolandbau weniger Pestizide ausgebracht werden dürfen, muss die Wiesen-Blacke aufwändig von Hand ausgestochen werden. Das übernimmt, wenn es nach den Plänen der Forschenden geht, künftig der Roboter.

Sehr beeindruckt packe ich meinen Weihnachtsstern in das bereitgelegte Zeitungspapier. Die Hightech-, High-End-Forschung hat eine grosse Anziehungskraft. Die Infrastruktur fördert Zusammenarbeit, schafft Experimentierräume, lässt keine Wünsche offen. Man spürt die Neugier, das Engagement, die Begeisterung der Forschenden, etwas beizutragen, um die grossen Herausforderungen der Zeit zu bestehen.

Knacknuss Übertragbarkeit

Dass vertikale Indoor-Systeme für die Nahrungsmittelversorgung von urbanen Verdichtungsräumen wie Singapur oder Abu Dhabi in Zukunft einen entscheidenden Beitrag leisten können, leuchtet mir ein. Weniger klar ist, ob diese Entwicklung auch für Dakar oder Nairobi Potenzial hat. Die Forscher*innen selbst meinten, es bräuchte für Afrika «Lowtech»-Lösungen.

Genau hier steckt die Knacknuss. Die Proteine aus Erbsen für pflanzliche Ersatzprodukte, wertvolle Öle für medizinische Anwendungen, Polymere aus Algen als alternative Verpackungsstoffe – alles grossartige Entwicklungen, die unseren ökologischen Fussabdruck möglicherweise senken und auch einen Markt finden werden. So wie die Weihnachtssterne neben dem Glühweinstand in der trüben Münchner Innenstadt.

Doch die Versorgungssicherheit in Gebieten, wo heute die Hungerzahlen wieder steigen, kriegen wir seit 50 Jahren nicht in den Griff. Technologie- und kapitalintensive Lösungen, wie sie die Wissenschaftlerinnen an der TUM so erfolgreich hervorbringen, enttäuschen in der Übertragbarkeit auf Räume, die systemisch von anderen Rahmenbedingungen geprägt sind. Und sie gehen das Verteilungssystem, welches an der Wurzel der Unterversorgung steht, nicht an.

Die Erfolge der Venture Labs der TUM sind inspirierend. Das Venture-Lab, das den Durchbruch in dieser Frage bringt, möchte ich gerne besuchen. Die Infrastruktur, die notwendig ist, um Innovationen, die Hungerkrisen endgültig Geschichte werden lassen, sehen. Rankings, die dafür Punkte verteilen, kennen. Einschlägige Errungenschaften als «Einhörner» feiern.

Meinen Weihnachtsstern habe ich auf das Fensterbrett im gerade richtig angestaubten Hotelzimmer am Kaiser Ludwig-Platz gestellt. Dort passt er wunderbar hin.