Conversation killer

Episode 2, Staffel #1

Sabin Bieri

Arthur Cecil Pigou war ein hoch dekorierter Ökonomieprofessor an der Universität Oxford. Auf ihn geht das Prinzip zurück, externe Effekte – im Fachjargon «Externalitäten» – in Produktionsprozessen, die negative Umweltauswirkungen haben, mit einer Steuer zu belegen. Und so geht’s: Wenn, so das oft zitierte Beispiel, eine Chemiefirma ihre Abwässer ungereinigt in den Fluss leitet, wirkt sich das auf jene aus, die den Fluss nutzen – etwa zur Erholung oder als Bewässerungsquelle. Die Beeinträchtigung der Lebensqualität der Flussanwohnerinnen muss in der Logik von Pigou als Kostenfaktor auf die Herstellung der Produkte dieses Chemieunternehmens aufgeschlagen werden.

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Die staatliche Intervention ins Marktgeschehen ist in diesem Fall auch aus Sicht von Wirtschaftsliberalen gerechtfertigt: Der negative externe Effekt wird mit einem Preisschild versehen und dieses an den Verursacher – im Beispiel die Chemiefirma – gesendet, um ein «Marktversagen» zu korrigieren. Entscheidet die Firmenleitung daraufhin, in Filteranlagen zu investieren, um die Abwässer zu säubern, würde die Steuer aufgehoben und die Wasserqualität bliebe erhalten. Soweit das Konzept Pigous und die nach ihm benannte «Pigou-Steuer», datiert 1920.

Weitverbreiteter Glaube an „einfache“ Lösung

Bei Diskussionen um Massnahmen zur Bekämpfung der existenziellen – vor allem ökologischen – Krisen der Gegenwart kommt die Forderung nach der konsequenten Einführung des Verursacherprinzips so sicher wie das Amen in der Kirche. Das Argument, externe Effekte zu bepreisen, wirkt jedoch oft als conversation killer, wenn es darum geht, nach unterschiedlichen, neuartigen Lösungen und Möglichkeiten ausserhalb des marktwirtschaftlichen Denkschemas zu suchen. Der Glaube, es bedürfe nun lediglich der Internalisierung der externen Effekte, damit sich die Probleme unserer wirtschaftlichen Produktion und des Überkonsums sinnvoll beheben lassen, ist weit verbreitet. Und für Anhänger der liberalen Marktwirtschaft ist es häufig das einzige Korrektiv, das sie im Kontext eines sich sonst ausgezeichnet selbst regulierenden Systems zulässig finden.

Es klingt bestechend: Man organisiert die Märkte einfach so, dass Umweltgüter künstlich verknappt werden, indem man diese Ressourcen mit einem Preis versieht. Damit wird deren Verbrauch, genau wie Pigou es vorgezeichnet hat, in den Produktionskosten abgebildet. Das kann entweder via Lenkungsabgaben oder über handelbare Emissionsrechte passieren, womit sich das Problem des exzessiven Verbrauchs und der Umweltverschmutzung elegant lösen lässt. Noch eleganter finden zahlreiche Ökonominnen die Erweiterung der Pigou-Steuer in Richtung der kostengünstigsten Kompensation. Zahlen soll bei dieser Variante nicht die Verursacherin, sondern jene, die das preiswerteste Angebot machen, um die externen Effekte zu decken. Wenn die Schweiz im Ausland Projekte finanziert, die die CO2-Emissionen drosseln, statt innerhalb ihrer eigenen Grenzen in Klimamassnahmen zu investieren, entspricht dies der Logik der kostengünstigeren Kompensation.

100 Jahre Pigou – eine Bilanz

Stellt sich die Frage: Wenn es eine so schlanke, einfache und mit marktwirtschaftlichen Prinzipien kompatible Lösung gibt, warum sind wir dann, rund 100 Jahre nach Pigous Werk, weit von einer flächendeckenden Internalisierung externer Effekte entfernt?

Die Weltbank rechnet vor: Bisher führten 47 Staaten carbon pricing in ihren nationalen Gesetzgebungen ein – womit gerade mal 23 Prozent der weltweiten Treibhausgas-Emissionen bepreist werden. Die bisherige Umsetzung zeigt zudem, dass die Wirkung dieses Instruments die Erwartungen bei weitem nicht erfüllen. Womit die Klimaziele von Paris auf der Strecke bleiben.

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Und damit zurück zum conversation killer. Um eine substanzielle Diskussion über wirksamere Lenkungsabgaben oder andere Möglichkeiten, wie wir die menschgemachten Umweltprobleme in den Griff bekommen, gar nicht erst aufkommen zu lassen, wird das Gespräch gerne mit Standardargumenten abgewürgt. Hier ein paar Kostproben aus der Kiste des marktwirtschaftlichen Mainstreams – und Überlegungen, die zur Entgegnung taugen.

1: «Wirksame Umsetzung ist zu kompliziert»

Nehmen wir das Beispiel EU. 2008, im Nachhall der globalen Finanzkrise, einigte sich die internationale Gemeinschaft, den Emissionszertifikatshandel rasch zu lancieren. Die EU stand mit ihrem Emissionshandelssystem (EU EHS) seit 2005 bereits in den Startlöchern, die Weltbank und der Währungsfonds unterstützten die Stossrichtung, und sogar in den USA wurde ein nach dem Europäischen Beispiel gebautes Handelsregime diskutiert – allerdings wurde letzteres kurz darauf im Senat versenkt. Das EU EHS wurde hingegen eingeführt. Aber: Die tiefen Preise sowie eine grosszügige Vergabe von kostenlosen Zertifikaten an Firmen hatten zur Folge, dass der Mechanismus nicht ausreichend greift – im Gegenteil: Die Unternehmen konnten sogar Zertifikate verkaufen und den Gewinn verbuchen, ohne auch nur eine einzige Massnahme zur Senkung ihrer Treibhausgasemissionen zu treffen. Immerhin zeigt das Beispiel EU auch: Es lässt sich etwas verändern – sofern der politische Wille vorhanden ist.

2: «Das Volk will nicht»

Eine erhellende Illustration, wie ein für seine Zeit fortschrittlich gebautes Lenkungsabgabesystem politisch bis zur Unkenntlichkeit zerstückelt wird, liefert die Schweiz. Unter dem Eindruck von gehäuften Umweltkatastrophen der späten 80er Jahre und kurz vor dem Erdgipfel von Rio legte der Bundesrat 1990 einen Vorschlag zur Verteuerung von Heizöl und Benzin vor, der bis weit in die politische Mitte abgestützt und auch durch die namhaften Wirtschaftsverbände getragen war.


Die Kehrtwende kam ein paar Jahre später: Mit der Rezession verpuffte der Wille zum Handeln, düstere Szenarien zur Schweizer Wettbewerbsfähigkeit liessen den Mut der Politik in sich zusammenfallen. Unter dem Druck der Erdöllobby und der Autopartei, die später in der SVP aufging, machten die Wirtschaftsverbände eine Kehrtwende. Jahrelange Anstrengungen um die Austarierung des Instruments verliefen im Nichts – und wurden 2021 schliesslich an der Urne abgelehnt, wenn auch knapp. Woran es wirklich liegt, dass Lenkungsabgaben in der Schweiz bisher gescheitert sind, hat das Magazin «Die Republik» chrononolgisch aufgezeichnet.

3: «Wie Bill Clinton schon sagte…»

Der Spruch von Bill Clinton geht immer. «It’s the economy, stupid.» Die Umsetzung einer CO2-Steuer ist stets von der Rede vom sinkenden Wirtschaftswachstum begleitet – und schürt entsprechende Ängste. Wird die Steuer hoch angesetzt – und hätte damit tatsächlich einen Einfluss auf den Emissionsausstoss – drohen negative Auswirkungen auf das nationale Wirtschaftswachstum. Ein Szenario, das (fast) jede Politikerin vermeiden will, weil es – Bill Clinton hat’s erkannt – ihre Wiederwahl in Frage stellt. Die Konsequenz: Die Steuer wird tief angesetzt. Der Anreiz, emissionssenkende Massnahmen zu ergreifen, fällt damit weg. Der CO2-Ausstoss steigt ungebremst.

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Mit anderen Worten: Soll der Preis tatsächlich die realistische Grössenordnung der Externalitäten spiegeln, und die dadurch erzielte Reduktion den in internationalen Abkommen verhandelten Zielen entsprechen, wird er so hoch, dass die Volkswirtschaft unter normalen Umständen kollabieren würde. Um dies aufzufangen, bräuchte es gemäss Szenarien einen Effort von der Grössenordnung der britischen Kriegswirtschaft im Zweiten Weltkrieg.

Im Rahmen der gegenwärtigen politischen Ordnung sind Churchill und sein Appell zu «blood, toil, tears and sweat» keine Option. Die Ansicht, es könnte sogar noch teurer werden – nämlich dann, wenn wir gar nichts tun, ist jenseits des Vorstellbaren. Der gangbare Weg liegt somit irgendwo dazwischen. Sinkendes Wirtschaftswachstum darf kein Tabu mehr sein. Zielführend wäre dagegen eine kollektive Konstruktion von neuen, wissensgestützten Vorstellungen. Etwa eine Debatte darüber, in welchen Sektoren und Regionen es Wachstum braucht, und wo wir als Bürgerinnen eines reichen Landes mit hoher Lebensqualität die Wachstumsschwelle erreicht haben.

4: «Probleme der Messbarkeit»

Umsetzungsprobleme sind Messbarkeitsprobleme, so das Verdikt. Denn wie teuer ist ein Umweltgut wie der saubere Fluss? Wie bepreist man den Mehraufwand von Bäuerinnen, die ihr Wasser aus einer anderen Quelle beziehen müssen? Was kostet Lebensqualität? Wie kalkuliert man die Schlaflosigkeit des Einfamilienhausbesitzers in der Flughafenschneise? Wie schlägt der Feinstaub des Strassen- und Flugverkehrs zu Buche?

Tatsächlich liegen zahlreiche Methoden bereit, um Umweltkosten zu berechnen. In der Logik der neoklassischen Wirtschaftstheorie sind sie jedoch kaum durchsetzbar. Man stösst sich daran, dass die zu treffenden Definitionen und Abgrenzungen letztlich auf normative Grundlagen abgestützt sind. Diskussionen um Werthaltungen scheut die Ökonomie, die sich in ihrem Selbstverständnis an den exakten Wissenschaften orientiert. Und weil die Ökonomie auch die Deutungshoheit über die Preisfrage für sich beansprucht, herrscht Stillstand.

5: «Internalisierung ist nicht sozialverträglich»

Der beispiellose Wohlstand in den westlichen Industriestaaten sowie die massive Senkung der Armut in zahlreichen Schwellenländern basiert auf einer konstant wachsenden Wirtschaft, die wiederum auf billiger Energie beruht. Die tiefen Energiekosten ermöglichen es auch ärmeren gesellschaftlichen Schichten, sich ein Stück des Wohlstandskuchens zu sichern. Erhöhte Steuern auf fossiler Energie würden, so die Schlussfolgerung, gerade diesen Menschen schaden.

Proteste der "Gilets jaunes". Foto: Alexandros Michailidis / shutterstock


Mit diesem Argument tun sich oft Protagonistinnen hervor, die sonst nicht als Fürsprecherinnen von Massnahmen gegen soziale Ungleichheit auffallen. Als Beweis führen sie gerne die Proteste der «Gilets jaunes» von 2018/19 in Frankreich ins Feld und bringen im gleichen Atemzug demokratiepolitische Bedenken an, die mit der Erstarkung von rechts-autoritären Parteien illustriert werden.

Es gibt zwischenzeitlich zahlreiche Studien, die ausweisen, wie höhere Energiepreise unterschiedliche Einkommensschichten belasten. Ihr Grundton bestätigt zwar die stärkere Nettobelastung von einkommensschwächeren Haushalten, vor allem im Bereich Strom und Wärme, etwas weniger ausgeprägt im Bereich Mobilität. Je nach Ausgestaltung der Internalisierung können aber genau diese Einkommensschichten via Rückerstattung der generierten Staatseinnahmen gezielt entlastet werden, so dass keine negativen Einkommenseffekte zu erwarten sind.

6:  «Der Markt richtet es»

«Möglichst keine staatlichen Interventionen» gehört zum Standard-Repertoire der Wirtschaftsliberalen. «Der Markt» funktioniert aber nicht in einem Vakuum. Die umfangreichen Subventionen, die in unserem Wirtschaftssystem eingebaut sind – und die oft falsche Anreize schaffen – sind kaum Gegenstand der Diskussion. Subventionen für fossile Energien, sowohl in der Produktion als auch im Verbrauch, kurbeln die Wirtschaftsleistung an und fördern das Konsumverhalten. So hat die OECD über 700 Massnahmen festgestellt, mit denen fossile Energien entweder direkt subventioniert oder via Anreize gefördert werden. Der internationale Flugverkehr beispielsweise profitiert nicht nur von einer Befreiung von der Mineralölsteuer, die jede Schweizer Autofahrerin an der Zapfsäule entrichtet, sondern ist auch weitgehend von der Mehrwertssteuer befreit. Und dies ist nur die Spitze des Eisbergs. Auch in andern Bereichen – etwa bei der Biodiversität –  fördert das genaue Hinschauen massive Interventionen zu Tage, die über die Jahrzehnte zur Gewohnheit geworden sind; ein weiteres Beispiel dafür sind die enormen Fischereisubventionen, mit denen die grossen Fischereinationen Treibstoff bezuschussen.

Ein erster, fundamentaler Schritt in Richtung Kostenwahrheit wäre ein systematischer Abbau von Subventionen auf fossilen Energieträgern. An ihre Stelle könnten stattdessen beherztere Impulsprogramme für Klimaschutzmassnahmen, wie sie in der Schweiz derzeit diskutiert werden, treten.

Steuern unsere Präferenzen unsere Entscheide oder ist es grade umgekehrt? Foto: ESB Professional / shutterstock


7: «Falsches Motiv»

«Das Hauptanliegen von Pigou war nicht, mehr Staatseinnahmen zu generieren, sondern Verhaltensweisen zu verändern», heisst es oft. Und dem ist auch so. Aber Letzteres funktioniert nicht – jedenfalls nicht auf lange Sicht. Gewisse psychologische Verdrahtungen in unserem Hirn verhindern offenbar langfristige Verhaltensänderungen, wenn sie ausschliesslich aufgrund eines äusseren Anstosses erfolgen, statt aus einer genuinen Überzeugung heraus.

Zweifellos sind tiefgreifende Verhaltensänderungen in für die Treibhausgasemissionen wichtigen Bereichen – Mobilität, Energieverbrauch, Konsum – entscheidend, um in der Klimapolitik und in der nachhaltigen Entwicklung auf einen grünen Zweig zu kommen.

Passen wir uns nur oberflächlich und infolge von gelenkten Impulsen an, und nicht wegen einer bewusst gefassten Einsicht, werden wir immer wieder in alte Muster zurückfallen.

Und hier kommt eine andere Disziplin ins Spiel: Während Ökonominnen – auf die Kurzformel gebracht – überzeugt sind, dass wir unsere Entscheidungen aufgrund von individuellen Präferenzen fällen, kehrt die Psychologie die Logik um: Es sind unsere Entscheidungen, die unsere Präferenzen formen. Dieses sogenannte Präferenz-Umkehr-Phänomen steht, so Dorschs Lexikon der Psychologie, in Widerspruch zu Grundannahmen der Ökonomischen Theorie des Homo oeconomicus.

Pigou und «The value of the whale»

Arthur Cecil Pigou wäre vermutlich enttäuscht über die Bilanz seines Ansatzes. Dass dieser einen signifikanten Beitrag zur Senkung unserer Treibhausgasemissionen leisten kann, ist weitgehend Theorie geblieben.

Was aber lässt sich aus der Geschichte lernen? Die wichtigste Einsicht dürfte sein: Lenkungsabgaben als ein Mittel, um unsere Krisen zu bewältigen, sind nicht falsch – sofern sie wirksamer ausgestaltet werden als bisher. Die schwache Wirkung und der fehlende Lerneffekt erinnern an das Phänomen der «Umsetzungsfehler»: Wir versuchen es wieder und wieder, erhöhen allenfalls die Dosis, aber ändern nichts am Grundsatz.

Es ist, wie wenn der Lift nicht kommt, wenn wir darauf warten. Die meisten Menschen – ich inklusive – drücken wie wild auf den Knopf, statt die Treppe zu nehmen. Oder, um es mit Adrienne Buller, der Autorin von «The value of a whale: On the Illusions of Green Capitalism», zu sagen: Die Obsession mit der Kosten-Nutzen-Optik prägt die Deutung der Umwelt- und der Ungleichheitskrisen und verstellt unseren Blick auf wirksamere Massnahmen.

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Die Wissenschaften könnten es besser

Daraus die zweite Erkenntnis: Die Wissenschaften – der Plural ist gewollt, weil nicht nur Ökonomen in der Pflicht sind – sollten nachlegen. Nämlich in der Debatte um vielfältiges, unsicheres und vorläufiges Wissen. Es ist auch an ihnen, unterschiedliche Lösungspfade, die politisch abgewogen werden müssen, zu erarbeiten und zu erproben. Dazu gehören Ansätze wie die Reduktion der Arbeitszeit, neue Formen der Produzentinnen-Konsumenten-Verhältnisse oder die Prüfung entschiedener Desinvestitionen aus schädlichen Praktiken des Fossilzeitalters.

Das beharrliche Festhalten und die einseitige Überhöhung von marktkonformen Lösungen hingegen verhindern eine ergebnisoffene, transparente und öffentliche Debatte über die Vorteile von alternativen Handlungsmöglichkeiten. Wir stehen uns selbst im Weg zu einem substanziellen Durchbruch. Den wir brauchen. Und zwar schnell.