Rohstofflieferant? Nein, Kaffeeunternehmerin!

Kaffee wird an den Rohstoffbörsen gehandelt und meist als «Kolonialware» behandelt. Auch die Menschen, die den Kaffee produzieren, bekommen das zu spüren. Doch in den Produktionsländern weltweit wächst eine neue Generation heran: Sie ist gut gebildet und durchbricht das traditionelle Handelsmodell mit Kreativität und Unternehmergeist. Unser Doktorand Samuel Brülisauer hat die neuen «Kaffeebauern» in Peru besucht.

Samuel Brülisauer

2021 war für Mark Bolliger ein gutes Jahr. Zum ersten Mal seit er vor einem Jahrzehnt die Führung der Familienfarm übernommen hatte, blieb nach erfolgreichem Verkauf seiner Ernte ein anständiger Überschuss übrig. Genug, um endlich sich aufdrängende Investitionen zu tätigen, wie etwa ein neuer Pick-up und ein Dach für den halbfertigen Anbau bei der Verarbeitungsanlage seiner Finca Rosenheim.

Zahltag auf der Finca Rosenheim: Mit ihrer Unterschrift bestätigen die Erntehelfer*innen die von ihnen geerntete Menge Kaffee und den Empfang des wöchentlichen Salärs. Foto: Samuel Brülisauer
Anbau unter einheimischen Schattenbäumen: auf rund 39 Hektaren produzieren Mark und sein Team jedes Jahr Kaffee. 2021 hat er damit zwei Container – fast 38 Tonnen – gefüllt. Foto: Samuel Brülisauer


Mit 39 Hektaren ist der 38-jährige Peruaner mit deutschen und Schweizer Vorfahren kein Kleinbauer, aber auch nicht einer der ganz Grossen in Villa Rica, einem der ersten Kaffeeanbaugebiete Perus. Den Hauptertrag seiner Ernte, knapp zwei Container Rohkaffee, exportiert er selber an einen Importeur von Kaffeespezialitäten in Deutschland. Für einen Kaffeeproduzenten ist er damit eine Ausnahme, viele seiner Berufskolleg*innen verkaufen entweder an einen peruanischen oder internationalen Exporteur oder an eine Kooperative. Auch mit seinem fliessenden Englisch ist Mark ein Einzelfall: Das ermöglicht es ihm, seinen Käufer und Endkonsumentinnen von der Arbeit auf der Farm zu berichten, sei es über Social Media oder hin und wieder in Podcasts. Nicht selten haben seine Videos eine beachtliche Reichweite (Link unten): Viele Produzent*innen gibt es in der Internet-Coffee-Bubble nicht.

Anpassen an die Börsenpreise

An Marks berufsbedingter Realität ändert das alles trotzdem nicht viel. Genauso wie für praktisch alle Kaffeeproduzent*innen weltweit ist sein Endergebnis in erster Linie von der Börse abhängig. Zehn Jahre Investitionen in seine Farm – von Varietäten über Pflanzenunterhalt bis hin zur Verarbeitung – haben ihm zwar zu langfristigen Kundenkontakten sowie einer höheren Qualitätsprämie verholfen. Letztlich war es dann aber eine Frostperiode in Brasilien, die weltweit zu den höchsten Kaffeepreisen seit Ende 2011 führte und ihm den bisher besten Jahresabschluss brachte.

Bloss: Wie viele andere bekommt auch Mark gewisse Schattenseiten der aktuellen Hausse zu spüren: Wenn der Grundpreis so hoch ist wie Moment, sind etliche Einkäufer*innen bereit, bei der Qualität Abstriche zu machen, um ihre Kosten zu senken. Für Produzent*innen von Spezialitätenkaffee heisst das: Entweder können sie nicht allen Kaffee verkaufen oder sie müssen in Kauf nehmen, dass der Preiszuschlag für die höhere Qualität – das sogenannte Qualitätsdifferenzial – tiefer ausfällt. 

Der Exportpreis fast allen Rohkaffees setzt sich zusammen aus einem Grundpreis und einem positiven oder negativen Qualitätsdifferenzial – für zertifizierten Kaffee von einer festen (Fairtrade, Bio) oder variablen Nachhaltigkeitsprämie (z.B. Rainforest Alliance/UTZ, Nespresso AAA). Dies gilt sowohl für die Standardqualität wie auch Spezialitätenkaffees, wobei bei letzteren neben der «physischen» Qualität wie Grösse und Einheitlichkeit der Bohnen sowie sichtbare Defekte einer Probe auch das organoleptische Profil – die sensorische Qualität in der Tasse – in einem standardisierten Verfahren, dem Cupping, ermittelt wird. Die Bewertung verschiedener Kriterien wie Geruch, Geschmack und Textur ermöglicht es, Käufer*innen genauer über eine bestimmte Lieferung Auskunft zu geben und einen substanzieller Qualitätsaufschlag zu erzielen.

Im Jahr 2021 ist der Börsenpreis für Arabica-Kaffee von etwa 1.30 USD/lb (0.45kg) auf über 2.15 USD/lb gestiegen, also um über 60 Prozent. Der Hauptgrund dafür war eine Frostperiode im Süden Brasiliens, welche mehr als einen Fünftel der dortigen Ernte zerstört hat und auch in den Folgenjahren noch zu spüren sein wird. Doch auch Ende 2022 zeigt die weltweite Hausse keine Anzeichen abzuklingen. Hinzu kommen seit Beginn dieses Jahres steigende Düngerpreise. Sie verknappen die diesjährige und womöglich nächste Ernte zusätzlich. Während die weltweite Kaffeeindustrie deswegen (und wegen stark gestiegener Transportkosten) seit nun bald zwei Jahren im Ausnahmezustand operiert, sind die hohen Preise für viele Produzent*innen eine willkommene Erholung von der fast zehn Jahre andauernden Baisse.

Der Preis für Coffee “C” Futures, also an der Börse gehandelte Kaufverträge für Arabica-Kaffee, überschritt 2021 erst zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert die Grenze von 200 US Cents/Libra.

Die Krux der Kooperativen

Noch viel schwieriger ist die Situation jedoch für private Unternehmen und besonders Kooperativen, die Spezialitätenkaffee exportieren. Auch sie haben in den letzten Jahren beachtliche Summen in die Qualität investiert. Für viele spielt die damit verbundene Prämie inzwischen eine mindestens so wichtige Rolle wie der Preiszuschlag aus Fairtrade- und Bio-Zertifizierung.

Der hohe Börsenpreis erschwert ihr Geschäft gleich dreifach: Neben der tieferen Nachfrage nach Spezialitätenkaffee haben sie auch mit der Angebotsseite zu kämpfen: Ein hoher «Strassenpreis» – also der Preis, der für Standardqualität von lokalen Händlern gegen Cash angeboten wird – führt zum einen dazu, dass Produzent*innen wenig Anreiz haben, die Qualität ihrer Ernte hochzuhalten. Zum anderen müssen Kooperativen häufig hohe Zinsen auf geliehenes Kapital bezahlen, das sie für den Kaffeeankauf und laufende Projekte benötigen. In Peru sind das derzeit bis zu 14 Prozent. Mit internationalen Firmen mitzuhalten, deren Liquidität höher und Kreditzinsen deutlich tiefer sind, ist darum schwierig. Zahlreiche Kooperativen haben daher aktuell Mühe, die Volumen für ihre zuvor abgeschlossenen Verträge zusammenzubringen, und müssen auf Einkäufe von Nicht-Mitgliedern zurückgreifen – eine Praxis, die oft kritisch gesehen wird: Sind das noch echte Kooperativen?

Von Moyobamba nach Mailand

Szenenwechsel: Im Juni 2022 steigt Karen Guevara in Lima ins Flugzeug, um zusammen mit einer Gruppe von jungen Berufskolleg*innen an einer zehntätigen Reise in die Schweiz und an der Ausstellung «World of Coffee» für Spezialitätenkaffee in Mailand teilzunehmen. Die 25-Jährige arbeitet als Verantwortliche für Mitgliederprojekte bei der Asociación de Productores Selva Nororiental (Aproselvanor) in Moyobamba, im Norden Perus.

Erntesaison in Moyobamba: Von Mai bis September wird überall Kaffee getrocknet – auch auf dem Vorplatz von Aproselvanor. Foto: Samuel Brülisauer
Das Kaffeelager der Kooperative: konventioneller und Bio-Kaffee sind fein säuberlich getrennt. Foto: Samuel Brülisauer


Unter der Führung eines jungen, gut ausgebildeten Teams von Agronomen, Betriebswirtschafterinnen und Lebensmitteltechnologen ist Aproselvanor in nur fünf Jahren auf über 500 Mitglieder angewachsen. Mit Projekten, kofinanziert durch die Fairtrade-Prämie, Regierungsmittel und manchmal Kund*innen, wurde in dieser Zeit viel investiert: in Verarbeitungsinfrastruktur, in Pflanzenmaterial, vor allem aber in die Verbesserung der Kaffeequalität. Wie für ihre Kolleg*innen ist Karens Reise darum eine wichtige Gelegenheit, sich in der Welt des Spezialitätenkaffees zu vernetzen und Kundenkontakte aufzubauen. Sie dokumentiert ihre Eindrücke auf Instagram, wo Aproselvanor wie praktisch jede peruanische Kaffeefirma und -kooperative vertreten ist, um über ihren Geschäftsalltag zu informieren – aber auch um ihre Marke aufzubauen und die eigene Geschichte zu erzählen.

Rohstoff ohne Marke

Denn von der Geschichte der Kaffeeproduzent*innen kommt in Konsumländern meist nur wenig an, von der Marke gar nichts. Die meisten Röstereien investieren verständlicherweise viel in den Aufbau und die Pflege ihres eigenen Auftritts. Nicht selten kann dabei jedoch der Eindruck entstehen, die eigentlich schwierige Arbeit beginne in der Rösterei. Doch wer die Kunst des Kaffeeanbaus kennt, weiss um die vielen Entscheidungen, die Produzent*innen das Jahr übertreffen müssen; das hohe Risiko, das damit einhergeht – und das durch und durch unternehmerische Denken und Handeln, das es dafür braucht.

Junge, gut ausgebildete Leute wie Karen und Mark haben sich nicht aus Not für das Kaffeegeschäft entschieden, sondern aus Interesse und Leidenschaft für seine Komplexität. Diese Motivation ist jener vieler junger Menschen sehr ähnlich, die in den letzten Jahren in Konsumländern Spezialitätencafés und -röstereien aus dem Boden gestampft haben. Aber während der Erfolg oder das Scheitern Letzterer zum grossen Teil von ihren eigenen Fähigkeiten abhängt, sind Karen, Mark und andere «Produzenten-Unternehmer» nach wie vor in erster Linie dem weltweiten Kaffeemarkt ausgesetzt.

Kaffee-Experimente: Fast aller Kaffee wird fermentiert. Seit einigen Jahren experimentieren Produzent*innen vermehrt mit ausgefeilten Verarbeitungsmethoden, wie hier mit verlängerter Fermentationszeit in luftdichten Säcken bei konstanter Temperatur. Foto: Samuel Brülisauer

Der Vergleich mit dem Wein

Umso auffälliger ist es, wenn Kaffeeproduzent*innen der unternehmerische Geist oft abgesprochen und sie stattdessen als reine Rohstofflieferanten behandelt werden. Ein vielsagender Vergleich lässt sich etwa mit Weingütern ziehen: Während Winzer*innen ihre eigene Marke aufbauen, Unternehmer*innen werden und ihre Einnahmen steigern können, gibt es beim Kaffee nach wie vor kaum Möglichkeiten, ein Produkt mit der Marke der Produzent*innen (-organisation) zu erstehen. Sogar bei Single-Origin-Kaffees – die typischerweise von einer einzigen Kaffeefarm oder dem Einzugsgebiet einer Kooperative stammen – dominiert in der Regel der Schriftzug und die Geschichte der Rösterei.

Selbst wenn auf der Verpackung teilweise auf die Produzent*innen hingewiesen wird, um dem Nachhaltigkeits-Engagement der Rösterei ein Gesicht zu geben: Es ist meist das Bild des lächelnden Kaffeebauers, der sich glücklich schätzt, in den Genuss eines kleinen Lohnzuschlags zu kommen. Wie aber würde wohl die Reaktion der Konsument*innen ausfallen, wenn sie am Weinregal plötzlich den Hinweis lesen würden: «50 Rappen fliessen direkt an die Produzenten»?

Kaffee mit Eigenmarke: Auch in Anbauländern wird Kaffeequalität zunehmend geschätzt. Neben Aproselvanor entdecken auch andere Kooperativen und Firmen diesen Markt für sich. Foto: Samuel Brülisauer

Postkoloniales Narrativ mit Ablaufdatum

Doch zurück zu unseren peruanischen Produzent*innen: Im wachsenden lokalen und nationalen Markt verkaufen sowohl Aproselvanor wie auch die Finca Rosenheim ihren Kaffee inzwischen selbst – meist extern geröstet und gemahlen, aber mit eigenem Design und Schriftzug. Ein halbes Pfund Spezialitätenkaffee wird in Lima schon einmal für 10 Franken oder mehr verkauft, in Geschäften oder über Whatsapp. Für Mark und die Produzent*innen der Aproselvanor ein gutes Geschäft, da sie so einen viel höheren Anteil des Verkaufspreises erzielen, der überdies nicht von den Unsicherheiten des globalen Kaffeehandels abhängt.

Natürlich werden die Exporte von beiden auch in Zukunft über 95 Prozent des Absatzes ausmachen. Doch ist es mehr als wahrscheinlich, dass diese Generation mit ihrem gesammelten Wissen – von Produktion über Verarbeitung, Cupping, Rösten bis hin zum Marketing – sich nicht für immer mit der aktuellen Struktur der internationalen Kaffeemärkte sowie dem unterliegenden postkolonialen Narrativ zufrieden geben wird. Und da die Zukunft des Kaffees – gerade des Spezialitätenkaffees – von «Produzenten-Unternehmer» abhängt, sind Händlerinnen und Röster vermutlich gut beraten, Wissen, Kreativität und den unternehmerischen Geist dieser Generation von Kaffeeunternehmer*innen als Chance – und Leute wie Karen und Mark – als ebenbürtige Partner wahrzunehmen.

Fotos und Videos Finca Rosenheim auf Instagram

Zum Autor

Samuel Brülisauer ist Doktorand am CDE, Kaffeeliebhaber und arbeitet im Projekt COMPASS, das Kakao- und Kaffee-Wertschöpfungsketten in Peru und der Schweiz untersucht. Für seine Studien weilte er im ersten Halbjahr 2022 in Peru. Im CDE-Blog «Coffee Corner» beleuchtet er Hintergründe dieser Sektoren.