Müssen wir bei der Verkehrswende wirklich «Gas geben»?

Unfälle, Umweltschäden, Lärm und Platzverbrauch: Kaum eine Form der Mobilität kostet mehr als der motorisierte Individualverkehr. Will man das ändern, muss man auch bei der Sprache ansetzen. Das zeigt eine diskurslinguistische Analyse von mehr als 1000 Texten über Verkehr aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. «Ob die Verkehrswende gelingt, wird unter anderem über die Frage entschieden, ob wir Strassen als multifunktionale Räume ansehen können», so Projektleiter Hugo Caviola vom CDE, im Interview.

«Begriffe wie Flächeneffizienz und Flächengerechtigkeit erschliessen den öffentlichen Raum unter dem Aspekt distributiver Gerechtigkeit»: Hugo Caviola. Foto: zvg

 

Interview: Gaby Allheilig

Sie gehen von der These aus, dass unser gängiger Sprachgebrauch der Verkehrswende im Weg steht. Wie stützen Sie diese Aussage?

Wörter führen Wertungen und Haltungen mit sich und legen bestimmte Handlungen nahe. Grundwerte unserer Kultur kommen dabei oft im Gewand des Normalen, Selbstverständlichen daher. Das gilt auch für unseren Umgang mit Mobilität. Ein Beispiel: Wir geben Distanzen oft als sogenannte Fahrstunden an. In unserer Forschung stiessen wir etwa auf Inserate des Typs: Haus zu kaufen eine halbe Fahrstunde von Zürich. Das sagt uns, dass es selbstverständlich ist, mit dem Auto zur Arbeit in die Stadt zu pendeln und dass das Auto als das Normale gesetzt wird.

Wäre auch sprachlich ein Novum: Fussgängerspur. Illustration: Julia Weiss


Der Verkehrswende entgegen steht aber auch das gängige Grundverständnis der Wörter Strasse und Verkehr. Strasse wird gewöhnlich als Autostrasse, Verkehr als Autoverkehr verstanden. So gibt es die Wörter Strassen- und Verkehrslärm sowie verkehrsberuhigte Strassen. Fussgänger*innen aber lärmen nicht und man muss sie nicht beruhigen. Es wäre also treffender, von Motorenlärm oder von Autolärm zu sprechen, statt von Verkehrslärm. Oder: Stellen Sie sich vor, Sie lesen ein Schild mit der Aufschrift: Strasse gesperrt. Sie verstehen wohl spontan: Sie ist für Autos gesperrt. Eine in diesem Sinn gesperrte Strasse wäre für Fussgänger*innen offen. Treffender wäre also ein Schild: Strasse für Autos gesperrt.

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«Wir sollten uns bewusst werden, wie der gängige Sprachgebrauch uns oft in autofreundliche Perspektiven lenkt»

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Nun kommt es ja auch darauf an, wie häufig und in welchem Zusammenhang ein Begriff verwendet wird. Gibt es da Zahlen?

Ja, zum Beispiel für die sogenannten Wortprofile im «Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS)». Hier kann man sogenannte Kollokationen abfragen, also erfahren, welche Wörter statistisch häufig in Verbindung mit bestimmten anderen vorkommen. Da stellt sich zum Beispiel heraus, dass das Wort Fussgänger in grossen Zeitungskorpora statistisch am häufigsten mit den Verben anfahren, überfahren, erfassen und übersehen vorkommt. Das bedeutet, dass in Zeitungen oft zu lesen ist, dass Fussgänger*innen angefahren, überfahren, erfasst und übersehen werden. Daraus können Sie ablesen, dass Zufussgehende offenbar eine Personengruppe darstellen, die durch Fahrzeuge gefährdet sind – ein Umstand, den man mit der Verkehrswende gern ändern würde.

Was schlagen Sie konkret vor?

Ein erster Schritt ist, dass wir uns bewusst werden, wie der gängige Sprachgebrauch uns oft in autofreundliche Perspektiven lenkt. Neue Wörter wie Wohnstrasse oder Velostrasse wirken dem erwähnten Strassenverständnis entgegen. Auch Wörter wie Strassenmarkt und Strassentheater zeigen, dass eine Strasse mehr als ein Transitraum für Autos sein kann.

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«Für die Verkehrswende könnte man in bestimmten Fällen den Spiess gedanklich umdrehen»

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Gibt es weitere Beispiele, wie sich die Verkehrswende sprachlich unterstützen lässt?

Wir haben entdeckt, dass viele auto-abgewandte Räume heute als Zonen bezeichnet werden. So gibt es autofreie Zonen, Fussgänger-, Begegnungs- und Tempo-30-Zonen. Diese Zonen bilden offenbar klar begrenzte und speziell eingerichtete Ausnahmeräume, also Entschleunigungsinseln innerhalb der Autowelt. Man könnte nun von diesem Umstand für die Verkehrswende profitieren, indem man in bestimmten Fällen den Spiess gedanklich umdreht und damit beginnt, Autobahnen, Hochleistungsstrassen etc. als Autozonen zu bezeichnen. So würde man signalisieren, dass man den öffentlichen Raum nicht selbstverständlich den Autos übergibt und man Autozonen als Inseln in einer autolosen Welt sehen kann.

In Ihren Arbeiten fordern Sie unter anderem dazu auf, von Fussmobilität statt Fussverkehr zu sprechen. Was bringt das?

Vorsicht: Wir fordern niemanden auf. Wir laden Menschen nur dazu ein, diese oder jene Wortwahl zu bedenken und dann zu entscheiden, wie sie sprechen wollen. Das Wort Fussverkehr ist relativ jung, etwa 30 Jahre. Es wirkt noch etwas behördensprachlich und ist im Alltag noch nicht ganz angekommen. Es hat den grossen Vorteil, dass es Autofahren und Zufussgehen vergleichbar macht. Umgekehrt hat das Wort Fussverkehr den Nachteil, dass es die Zufussgehenden in die Wassermetaphorik aufnimmt, die für den Autoverkehr gilt. Da sprechen wir von Staus, von Umleitungen, von Verkehrsinseln, von einem Tropfenzählersystem am Gotthard, von Verkehr, der in die Wohnquartiere einsickert etc. Spricht man nun in der Verkehrsplanung von Fussgänger- oder Passantenströmen, so werden die Zufussgehenden in gesichtslose Wasserpartikel verwandelt, die – zumindest metaphorisch – geleitet werden müssen.

Das Wort Fussmobilität hingegen eröffnet einen ganz anderen Frame. Mobilität erschliesst das Unterwegssein vom Individuum her. Deshalb verbinden wir Mobilität auch so leicht mit Freiheit. Verkehr dagegen nicht. Es lohnt sich also, von Fall zu Fall zu prüfen, ob man von Fussverkehr oder Fussmobilität sprechen will.

Auto- und Fussverkehr vergleichbar gemacht. Illustration: Julia Weiss

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«Je nach Berechnungsart verbringt ein Auto 90-99 Prozent seiner Existenz als ‘Stehzeug’»

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Auf der anderen Seite bewegen «Parkplatzmangel», verkehrsberuhigte Strassen, etc. die Gemüter auch sehr. Was sagen Sie den Menschen, die nicht auf ein motorisiertes Fahrzeug verzichten wollen oder können?

In der Autowerbung wird das Auto ohne seinen Parkplatz gedacht. In der Realität aber gibt es ein Auto nur zusammen mit einem Parkplatz. Je nach Berechnungsart verbringt ein Auto 90-99 Prozent seiner Existenz als «Stehzeug». Hinzu kommt, dass uns das Wort Fahrzeug die Einsicht erschwert, dass diese privaten Maschinen den öffentlichen Raum verstellen. Das Wort Parkplatz trägt dazu bei, diesen Umstand als normal darzustellen. Unsere Erfahrung mit Wörtern wie Arbeitsplatz, Studienplatz, Sitzplatz, Stehplatz, Schlafplatz flüstert uns ein, dass einen Platz zu haben, etwas wie ein Recht ist, das uns in der Welt zusteht. Der Parkplatz reiht sich wie selbstverständlich in diese Reihe der Platzansprüche ein. Würden wir denselben Platz Autostellfläche oder gar Autolagerfläche nennen, so sähe dies anders aus.

Ok, aber damit erreichen Sie jene, die gegen die Aufhebung von Parkplätzen sind, wohl kaum.

Tatsache ist, dass in einer durchschnittlichen mitteleuropäischen Stadt ein Drittel der Bewohner*innen ein Auto besitzt, zwei Drittel keines. Die Verteilung der Strassenflächen ist bisher umgekehrt: Rund zwei Drittel einer Strasse – Fahrbahn und Parkplätze – gehören den Autos, ein Drittel – die Trottoirs – den Fussgänger*innen. Hier können Begriffe wie Flächeneffizienz und Flächengerechtigkeit eine neue Perspektive schaffen: Sie erschliessen den öffentlichen Raum unter dem Aspekt distributiver Gerechtigkeit. Würde eine öffentliche Autolagerfläche, ca. 12 m2, nach ihren realen Kosten bepreist, würden manche Menschen genauer prüfen, wie dringend sie ihr Auto wirklich brauchen.

Neue Wörter wie Flächeneffizienz und Flächengerechtigkeit sind an diesem Veloparkplatz in Szene gesetzt. (Kölner Stadt-Anzeiger 30.01.24, Copyright: Bernd Schöneck)


In Ihren Analysen unterstreichen Sie jeweils die Betroffenheit der Menschen, die unter dem motorisierten Verkehr leiden – und schlagen Wörter wie Lärmstrasse oder Stinkstrasse vor, um «die Perspektive der Betroffenen sprachlich möglichst genau zu fassen». Fördert das nicht die Aggression von Automobilist*innen?

Es stimmt, dass manche Neuerungen bestimmte Menschen ärgern und wütend machen. Dies ist verständlich, weil Selbstverständliches und Gewohntes uns Sicherheit verleiht. Entscheidend scheint mir, dass verkehrspolitische Neuerungen im weitesten Sinn vernünftig und begründet sein sollten. Werden Neuerungen über einen Gewinn an Sicherheit und Gerechtigkeit in der Verteilung des öffentlichen Raums begründet, scheint mir dies auf die Länge möglich.

Man denke an die Proteste gegen die Gurtentragepflicht in den 1970er Jahren und den Aufruhr gegen das Rauchverbot in Gaststätten in den Nullerjahren. Beide Neuerungen waren im Grunde vernünftig und gut begründet. Kaum waren sie eingeführt, wurden sie von der Mehrheit der Menschen auch akzeptiert, weil man erstens sah, dass sie für die Mehrheit Vorteile brachten und zweitens, dass sie für alle galten. Wörter wie Verkehrssicherheit und Passivrauchen bildeten starke argumentative Stützen dieser Neuerungen.

Ob uns die Verkehrswende gelingt, wird unter anderem über die Frage entschieden, ob wir Strassen nicht hauptsächlich als Hoheitsgebiete der Autos, sondern als multifunktionale Räume ansehen können. Auch, ob es uns gelingt, Verkehr als ein menschengemachtes Geschehen zu sehen, das neben Autos auch Zufussgehende einschliesst.

Unfallsprache: Unfälle als Schicksal, das vom Himmel fällt? Illustration: Julia Weiss


Zusammen mit Ihren Kolleg*innen der Universitäten Wien und Potsdam haben Sie für Polizei und Medienschaffende in den D-A-CH-Ländern einen Leitfaden zur Berichterstattung über Verkehrsunfälle herausgegeben. Was erhoffen Sie sich davon?

Typische Unfallmeldungen sind sehr formelhaft und distanziert. Beispiel: Es kam zu einem Unfall, ein Unfall geschah, er ereignete sich. Das vermittelt den Eindruck, dass Unfälle gleichsam als Schicksal vom Himmel fallen, ohne menschliches Zutun, und wir nichts gegen Verkehrsunfälle tun können. Dabei gibt es Wörter wie Zusammenstoss und Kollision, die präziser auf den von Menschen verantworteten Vorfall Bezug nehmen als das Wort Unfall. In unserem Leitfaden schlagen wir vor, dass in jedem Bericht die handelnden Personen einmal genannt werden sollten. Zudem raten wir, Einzelereignisse in einen grösseren Zusammenhang zu stellen, etwa Statistiken zu nennen.

Wir erhoffen uns, dass die gesellschaftliche Verantwortung für Verkehrssicherheit auf diese Weise stärker sichtbar gemacht wird. Gelingt es Polizei und Medien, die Berichterstattung über Verkehrskollisionen mehr als von Menschen verantwortete Geschehen darzustellen, können wir vielleicht die hohe Zahl von Verkehrstoten – in der Schweiz rund fünf pro Woche – weiter vermindern.

Weitere Informationen

Unfallsprache – Sprachunfall, Leitfaden zur Berichterstattung über Kollisionen im Verkehr

«Von Parkplätzen, Spielplätzen und anderen Räumen», Artikel in GAIA – Ecological Perspectives for Science and Society, März 2025

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