«Moor ist nicht gleich Moor»

Im September 2024 stimmt die Schweiz über eine Initiative ab, die die Biodiversität besser schützen will. Im Vorfeld davon führen Befürworterinnen und Gegner unterschiedliche Zahlen ins Feld. Wir haben Roger Bär, Wissenschaftler am CDE und am Forum Biodiversität, gefragt: Wie misst man eigentlich, ob es der biologischen Vielfalt gut oder schlecht geht?

«Mit jeder Art und jedem Lebensraum, die wir verlieren, wird die Widerstandsfähigkeit des Gesamtsystems beeinträchtigt»: Roger Bär. Foto: CDE

Interview: Gaby Allheilig

Bei der Frage, wie es unserer Biodiversität geht, wird mit verschiedenen Zahlen argumentiert. Die einen berufen sich auf Flächen von Lebensräumen, andere auf die Rote Liste gefährdeter Arten, usw. Wie misst man denn Biodiversität?

Zunächst einmal stellt sich die Frage, was man misst. Beide genannten Beispiele liefern gute Hinweise für den Zustand der Biodiversität. Aber sie decken jede für sich nur einen bestimmten Teil der Biodiversität ab. Je nachdem, was man betrachtet, kommt man unter Umständen zu anderen Resultaten. Es gibt aber einen Konsens: Biodiversität setzt sich, grob gesagt, aus Ökosystemen bzw. Lebensräumen, Arten sowie der genetischen Vielfalt zusammen.

Wieso ist das nur eine grobe Einteilung?

Weil man noch weiter unterscheiden kann. Um bei der Artenvielfalt zu bleiben: Man kann schauen, wie viele Arten überhaupt vorhanden sind, wie viele Individuen einer Art es gibt, an welchen Orten oder in welchen Lebensräumen sie vorkommen oder eben nicht mehr.

Zudem kann man auch untersuchen, wie gross die Vielfalt innerhalb einer Art ist – das ist dann Teil der genetischen Vielfalt. Ist dieser Pool an Erbgut gross, hat eine Art in der Regel grössere Überlebenschancen, beispielsweise wenn sich die Umweltbedingungen verändern. Will man also den Zustand der Biodiversität beschreiben, sollte man von all diesen Aspekten möglichst viele abbilden.

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«Bei den Ökosystemen muss man Fläche und Zustand einbeziehen»

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Also auch die vorhandenen Flächen der verschiedenen Lebensräume. Worauf achtet man dabei?

Für die Biodiversitätsbewertung spielen hier vor allem die ökologisch wertvollen Lebensräume eine Rolle. In der Schweiz sind das vorab Naturschutzgebiete wie Moore. Nehmen diese ab, weiss man, dass das für die Biodiversität insgesamt nichts Gutes bedeutet. Aber Moor ist nicht gleich Moor. Ein Moor, das auszutrocknen beginnt, ist zwar immer noch ein Moor, aber in einem deutlich schlechteren Zustand. Deshalb braucht es bei der Beurteilung von Lebensräumen bzw. Ökosystemen zwei Faktoren: die Fläche und deren Zustand.

Nach dem Was jetzt doch die Frage: Wie misst man das?

Punkto Artenvielfalt sind momentan immer noch Beobachtungen mit systematischen Datenerhebungen am geläufigsten. Hierzulande ist das «Biodiversitätsmonitoring Schweiz» das umfangreichste Programm. Dabei werden Messnetze mit bestimmten Flächen – also Stichprobenraster – über die ganze Schweiz gelegt, in denen Expert*innen in zeitlichen Abständen die vorhandenen Arten und ihre jeweilige Anzahl erheben. Diese Methode ist relativ aufwändig, erlaubt es aber, repräsentative Aussagen zur Artenvielfalt und deren Veränderung zu machen. Je länger die Zeitreihen sind, umso aufschlussreicher sind die Aussagen über die Entwicklung.

Die Schweiz kennt noch weitere Zählmethoden. Bei einigen Daten- und Informationszentren, etwa InfoFlora, können theoretisch alle bei Biodiversitäts-Erhebungen mitmachen und die Daten aus ihren Beobachtungen eintragen. Diese Daten sind sehr wertvoll, aber auch schwieriger zu interpretieren, weil sie nicht alle systematisch erfasst werden: Dort, wo mehr Menschen sind, werden mehr Beobachtungen gemacht.

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«Es gibt noch grosse Datenlücken»

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Das sind Zählmethoden. Es gibt auch Erhebungen mit Satellitendaten, Flugzeugen, Drohnen…

Mit der Fernerkundung kann man Aussagen über die Lebensräume machen. Wenn man auf dieser Basis die Artenvielfalt beurteilen will, kommt die Modellierung ins Spiel: Hat man zum Beispiel die Artenzusammensetzung eines Waldes vor Ort inventarisiert, kann man anderswo einen ähnlich zusammengesetzten Wald aus der Luft aufnehmen und daraus die Wahrscheinlichkeiten für das Vorkommen von Arten ableiten.

Neben der Fernerkundung gibt es inzwischen weitere Methoden des Biodiversitäts-Monitorings: Mit der Umwelt- oder eDNA etwa versucht man anhand von Tierspuren zu erschliessen, welche Tiere sich an einem Ort aufgehalten haben. Findet man zum Beispiel Fischschuppen in einem Gewässer oder Fellhaare auf dem Boden, kann man mit Erbgut-Analysen bestimmen, um welches Tier es sich handelt. Man sucht also Spuren, statt zu zählen.

Die Schweiz führt schon etliche Programme durch, um verschiedene Aspekte der Biodiversität zu beobachten und deren Zustand zu bewerten. Wozu braucht es noch mehr Daten und Messreihen?

Es gibt noch Lücken – etwa bei den Insekten oder den Bodenorganismen. Und vor allem bei der genetischen Vielfalt. Für Letzteres existieren meines Wissens bei den freilebenden Arten bisher keine systematischen Erhebungen in der Schweiz. Hier können neue Methoden und Technologien hilfreich sein.  

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«Wenn man vereinfacht, darf man die Grundaussage nicht verändern»

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Mit all den Messungen und Daten ist noch nichts für den Schutz der Biodiversität getan. Welches Ziel verfolgt man mit den Monitorings unter dem Strich?

Erstens geht es darum festzustellen, ob Handlungsbedarf besteht und was zu tun ist. Die Rote Liste etwa ist ein solches Instrument. Sie gibt darüber Aufschluss, welche Arten gefährdet sind und geschützt werden müssen. Das zweite Ziel ist eine Wirkungskontrolle. Dabei prüft man, ob die getroffenen Schutzmassnahmen die richtige Wirkung entfalten. Zum Beispiel: Ist es nützlich, dass wir unsere Moore und Trockenwiesen unter Schutz gestellt haben? Oder nimmt dort die Artenvielfalt trotzdem ab – und falls ja, warum?

Fast zu jedem Monitoring-Programm gibt es umfangreiche Berichte. Warum kommuniziert man die Erkenntnisse für eine breitere Öffentlichkeit nicht einfacher?

Tatsächlich stehen wir im Unterschied zum Klima beim Thema Biodiversität in der öffentlichen Wahrnehmung wohl erst am Anfang. Allerdings gibt es bei der Biodiversität keine eingängige Aussage wie «Treibhausgase führen zu Klimaerwärmung». Der Grund dafür ist, dass die unterschiedlichen Aspekte und Zusammenhänge bei der Biodiversität noch komplexer sind als beim Klima. Und da landen wir bei der Herausforderung der Wissenschaftskommunikation: Es ist wichtig zu vereinfachen, damit die Erkenntnisse verständlich sind. Dabei darf die Grundaussage aber nicht verändert werden. Wenn das passiert, muss man Stopp sagen.

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«Die Frage ist, wie man die verschiedenen Monitorings aggregieren kann»

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In Ihrer Funktion beim Forum Biodiversität arbeiten Sie an einem Projekt, das für die Schweiz eine Art Gesamtindex für die Biodiversität entwickeln soll. Damit will man die Fülle von Daten auf einen leicht verständlichen Nenner bringen. Ist das also die Quadratur des Kreises?

Ein Pilotprojekt dazu hat gezeigt, dass das Spannungsfeld zwischen Vereinfachung und wissenschaftlich korrekten Aussagen gross ist und die Meinungen weit auseinander gehen. Ursprünglich ging es darum zu prüfen, wie sich ein internationaler Vorschlag von Wissenschaftler*innen für einen «mehrdimensionalen Biodiversitätsindex» in der Schweiz umsetzen lässt. Dieser beinhaltet nicht nur den Zustand der Biodiversität, sondern auch, was Biodiversität den Menschen bringt. Letzteres wurde in der Schweiz nach dem Pilotprojekt fallen gelassen. Jetzt schauen wir, wie für die Schweiz ein möglichst umfassender Index über Zustand und Entwicklung der Biodiversität definiert werden könnte.

Und?

Die grosse Frage dabei lautet, wie weit man die verschiedenen Biodiversitätsmonitorings aggregieren kann. Ist es zum Beispiel sinnvoll und möglich, die Artenvielfalt in Gewässern mit der Artenvielfalt von terrestrischen Lebensräumen zu verbinden? Denn wenn man einen Index berechnen bzw. vereinfachen will, muss alles vergleichbar sein…

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«Vielfalt ist das Kernelement von Widerstandsfähigkeit»

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… und eine Zahl liefern, die das alles zusammenfasst?

Bei der Biodiversität ist die eine Zahl, wie es sie zum Beispiel für die CO2-Bilanz gibt, nicht sinnvoll. Zudem braucht es für die Kommunikation neben der Vereinfachung auch eine Interpretationshilfe, die sagt, was das jetzt bedeutet. Da kommen weitere Fragen auf: Ab wann lässt sich von einer positiven oder negativen Entwicklung sprechen? Nimmt man das Kriterium «Gefährdung einer Art», ist das einfach zu beantworten. Reden wir aber von der Vielfalt, geht es weiter: Wo setzt man die Grenzen, ab wann man etwas als gut oder schlecht beurteilt? Und mit welchem Zeitpunkt in der Vergangenheit vergleicht man den momentanen Zustand? All das ist wichtig, um die Entwicklung der Biodiversität zu beurteilen. Hier hat die Forschung noch Hürden zu nehmen. Wie viel die Politik dann aufnehmen will, steht auf einem anderen Blatt.

Zum Schluss eine persönliche Frage: Was bedeutet Biodiversität für Sie?

Ich denke, dass Vielfalt das Kernelement von Widerstandsfähigkeit und Anpassungsmöglichkeiten ist. Mit jeder Art und jedem Lebensraum, die wir verlieren, wird die Widerstandsfähigkeit des Gesamtsystems beeinträchtigt. Und davon hängt letztlich alles ab – sei es unsere Ernährung, sei es die Vermeidung von Naturgefahren oder der Erholungsraum.

Mehr zum Thema

Zum Biodiversitätsmonitoring in der Schweiz aus der Reihe Hotspot des Forums Biodiversität:

Biodiversität überwachen
20 Jahre Biodiversitätsmonitoring Schweiz
Argumente für die Erhaltung der Biodiversität

Zum Zustand der Biodiversität in der Schweiz aus den Factsheets der SCNAT:

Insektenvielfalt in der Schweiz