«Menschen als soziale Wesen müssten im Mittelpunkt des Nachhaltigkeitsdiskurses stehen»

Ben Jann, Professor für Soziologie an der Universität Bern ist seit diesem Jahr neuer Präsident des CDE-Boards. In seiner Forschungsarbeit untersucht er unter anderem die sozialen Strukturen in der Schweiz und (Chancen-)Ungleichheiten – von der Bildung bis zum Arbeitsmarkt. Was das mit Nachhaltigkeit zu tun hat und welchen Beitrag die Soziologie zur nachhaltigen Entwicklung liefert, lesen Sie im Interview.

Ben Jann
«Nachhaltigkeit hat immer auch soziale Komponenten, was jedoch häufig zu stark ausgeblendet wird»: Ben Jann. Foto: Manu Friederich


Interview: Gaby Allheilig

In der Öffentlichkeit wird Nachhaltigkeit meist als Themenfeld von Naturwissenschaften und Wirtschaft dargestellt. Damit rücken die ökologischen Krisen wie Klima oder Biodiversität oder eben die ökonomische Sicht darauf in den Vordergrund. Soziale Krisen wie zunehmende Ungleichheit und ihre Folgen hingegen werden gesellschaftlich und politisch oft losgelöst davon betrachtet. Lässt sich das wirklich trennen?

Aus meiner Sicht lässt sich das überhaupt nicht trennen. Nachhaltigkeit hat immer auch soziale Komponenten, was jedoch häufig zu stark ausgeblendet wird. Letztlich sind es ja Menschen, die in einem bestimmten System handeln. Sie haben ihre Traditionen, Wertesysteme, Vorstellungen, ein soziales Gefüge, in dem sie sich bewegen. All das beeinflusst ihr Verhalten und wirkt sich auch auf die naturwissenschaftlichen und wirtschaftlichen Dimensionen der Nachhaltigkeit aus.

Was heisst das konkret?

Nehmen wir die ökologischen Probleme: Das naturwissenschaftliche Wissen über die Umweltprobleme mag vorhanden sein, vielleicht auch jenes über die wirtschaftlichen Zusammenhänge. Trotzdem bringt man das System nicht dazu, sich entsprechend zu verhalten. Deshalb stellt sich die Frage, wie man das steuern muss – und da landet man bei der Gouvernanz und bei den Menschen, Gemeinschaften und Gesellschaften. Eigentlich müsste der Mensch, der sich in einem sozialen System bewegt und verhält, immer im Vordergrund stehen. Denn viele der Probleme, die wir heute haben, sind letztlich soziale Probleme in dem Sinn, dass es schwierig ist, das Verhalten der Menschen in einer Art zu beeinflussen oder zu steuern, damit diese Probleme nicht entstehen.

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«Solange ein Grossteil in der Armutsfalle gefangen ist, ist der Handlungsspielraum für Veränderungen extrem gering»

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Hat das auch etwas mit sozialer Ungleichheit zu tun?

Direkt hat es nicht unbedingt mit sozialer Ungleichheit zu tun, im Detail kann es aber stark damit zusammenhängen. Soziale Ungleichheit kann dazu führen, dass gewisse Lösungsansätze unrealistisch sind, weil es Bevölkerungsschichten gibt, die gar nicht über den nötigen Handlungsspielraum verfügen. Das heisst, sie sind gezwungen, auf eine bestimmte Art zu handeln, weil es ums Überleben geht.

Zum Beispiel?

Wenn man subsistenzorientierte Bauernfamilien beispielsweise verbietet, Holz zu schlagen, das sie brauchen, um Feuer zu machen, lässt sich das unter Umständen gar nicht umsetzen, weil sie keine Möglichkeit haben, sich anders zu verhalten.  Wäre die Ungleichheit weniger stark ausgeprägt, würde vielleicht auch der Handlungsspielraum dieser Menschen zunehmen. Solange jedoch ein Grossteil der Bevölkerung in der Armutsfalle gefangen ist, ist der Handlungsspielraum für Veränderungen extrem gering.

Das heisst also: Wenn man die sozialen Krisen nicht bewältigt, kann man auch die anderen Krisen – wie die ökologischen – nicht bewältigen?

Das ist jetzt sehr deterministisch formuliert. Aber es geht schon in diese Richtung. Ich würde sagen: Eine gut funktionierende Gesellschaft, die einigermassen ausgeglichen und gerecht ist, ist eine Voraussetzung dafür, dass man als Gesellschaft die Herausforderungen angehen kann.

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«Einen Werkzeugkasten zu liefern, um Probleme zu lösen, ist nicht das Ziel der soziologischen Grundlagenforschung»

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Auch in reichen Ländern wie der Schweiz zeigt sich, dass Massnahmen zum Klima- und Biodiversitätsschutz oft mit dem Argument bekämpft werden, sie seien unsozial, weil die ärmeren Bevölkerungsschichten sich diese nicht in gleichem Umfang leisten könnten wie Wohlhabende. Stecken wir also im Dilemma fest, welche Krise wir dringlicher bewältigen müssen – oder gibt es Alternativen, um soziale und ökologische Krisen gemeinsam anzugehen?

Hier geht es letztlich um die Frage, wer am Ende die Kosten trägt, um beispielsweise den CO2-Ausstoss zu reduzieren. Dieses Problem stellt sich derzeit auch in anderen Bereichen. Tendenziell würde ich sagen, dass Massnahmen schon etwas problematisch sind, wenn der relative Preis, den man dafür bezahlt, sehr unterschiedlich ausfällt. Das ist etwa bei Konsumsteuern der Fall: Die Belastung für Personen, die wenig Geld haben, fällt hier relativ gesehen viel grösser aus. Deshalb gilt es, eine Balance zu finden und unterschiedliche Instrumente einzusetzen – je nachdem, ob es sich um ein nicht unbedingt nötiges Luxusgut handelt oder nicht.

Kann nicht die Soziologie Werkzeuge liefern, damit Menschen besser miteinander kooperieren können?

Die Soziologie erarbeitet unter anderem das Wissen, wie Gesellschaften funktionieren. Aber einen Werkzeugkasten zu liefern, ist nicht das Ziel der soziologischen Grundlagenforschung. Das Grundlagenwissen kann dazu dienen, um Werkzeuge zu entwickeln – und innerhalb der Soziologie gibt es ja alle Varianten von den Grundlagen bis zur Anwendung, insofern kann die Soziologie sicher zu so einem Werkzeugkasten beitragen.

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«Viele SDGs sind klassische Themen der Soziologie – schon lange bevor man sie als Nachhaltigkeitsziele deklariert hat»

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Welchen Beitrag leistet die Soziologie denn zur nachhaltigen Entwicklung?

Das können sehr unterschiedliche Beiträge sein, zumal sehr viele der Sustainable Development Goals (SDGs) in der Soziologie eine sehr wichtige Rolle spielen: Ungleichheit, Armut, Gendergerechtigkeit, etc. Das alles sind klassische Themen der Soziologie – und waren es schon lange, bevor man sie als Nachhaltigkeitsziele deklariert hat. Aber ich sehe noch eine andere Dimension, von der wir am Anfang gesprochen haben: Letztlich müsste der Mensch als soziales Wesen im Mittelpunkt des Nachhaltigkeitsdiskurses stehen. Natürlich braucht es technische Lösungen; deren Auswirkungen hängen aber davon ab, wie die Menschen in ihrem gesellschaftlichen Gefüge damit umgehen. Der Zweig in der Soziologie, der sich mit dem sozialen Handeln beschäftigt, sind die Handlungstheorien.

Heisst?

Dabei geht es um Fragestellungen wie: Wie ist es möglich, dass ein gesellschaftliches System funktioniert, obwohl es sehr viele Mechanismen gibt, die dem entgegenwirken? Wie finden Menschen im Zusammenleben Lösungen dafür? Das sind wichtige Aspekte, damit man abschätzen kann, ob eine Massnahme umsetzbar ist oder nicht und unter welchen Bedingungen. Obschon es sich dabei häufig um relativ abstrakte Grundlagenforschung handelt, können unter experimentellen Bedingungen gewisse Ansätze ausprobiert werden und sich Brücken zur Implementation schlagen lassen. Das Potenzial dafür ist jedenfalls vorhanden.

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«Provokativ formuliert hat sich die Interdisziplinarität im Nachhaltigkeitsbereich zu einer eigenen Disziplin entwickelt»

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Was würden Sie mit Blick auf die Nachhaltigkeit als brennendste Themen für die Wissenschaft bezeichnen?

Eine der grossen Herausforderungen sehe ich nach wie vor in der Interdisziplinarität. Nachhaltigkeit an sich ist zwar ein interdisziplinäres Feld, das auch als das wahrgenommen und betrieben wird. Provokativ formuliert könnte man aber sagen, dass sich die Interdisziplinarität im Nachhaltigkeitsbereich zu einer eigenen Disziplin entwickelt hat. Das erschwert wiederum eine wirkliche Interdisziplinarität.

Was heisst Interdisziplinarität für Sie?

Interdisziplinarität würde für mich heissen, dass Personen mit unterschiedlichen disziplinären Expertisen zusammenarbeiten, ohne dass sie ihre Expertise verlieren. Spezialwissen zusammenzubringen, um ein übergeordnetes Problem zu lösen, bedingt, Sichtweisen und Ziele auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, auf das Wesentliche zu fokussieren und eine Sprache zu finden, in der man mit den andern kommunizieren kann. Gleichzeitig sollte dies dann auch noch die unterschiedlichen Standards der disziplinären Forschung erfüllen. Dieser Spagat ist alles andere als einfach. Dazu kommt, dass sich die Disziplinen für gewöhnlich nach aussen auch aktiv abgrenzen.

Das CDE ist eine Institution, die diese Herausforderung wirklich anzugehen versucht und auch gute Beispiele dafür hat, wie das funktionieren kann. Trotzdem bleibt die Interdisziplinarität immer eine Herausforderung.

Welche weiteren Herausforderungen stehen aus Ihrer Sicht beim CDE an?

Einer der Aspekte ist die institutionelle Abgrenzung zwischen CDE und der Wyss Academy for Nature – zumindest von aussen gesehen. Hier besteht meines Erachtens noch Bedarf, deutlicher zu machen, worin sich die Institutionen unterscheiden und weshalb es beide braucht. Ausserdem soll sich die Rolle des CDE-Boards etwas verändern in Richtung eines inhaltlichen, strategischen Diskussionsforums.

Was wollen Sie als neuer Präsident als Erstes erreichen?

Das neue Board in Fahrt bringen und seine Rolle klären.

Zur Person

Ben Jann hat an der Universität Bern Soziologie, Wirtschaft und Allgemeine Ökologie studiert. Mit seiner Arbeit zu «Erwerbsarbeit, Einkommen und Geschlecht. Studien zum Schweizer Arbeitsmarkt» promovierte er 2008 an der ETH Zürich. 2010 wurde er an der Universität Bern Assistenzprofessor in Soziologie, 2014 wurde er zum ordentlichen Professor für Sozialstrukturanalyse berufen. Er ist seit 2014 Mitglied des CDE-Boards.